Interview

Letzte Generation nach dem Betonmischer-Unfall: „Wir sind nicht Gott“

Die Radfahrerin ist gestorben. Im Interview sagt Henning Jeschke von der Letzten Generation: „Junge Menschen waren lange Zeit leise, wir werden das nicht tun.“

Henning Jeschke, Klimaaktivist, im Interview
Henning Jeschke, Klimaaktivist, im Interviewdpa/Fabian Sommer

Am Donnerstag wurde bekannt, dass die Fahrradfahrerin, die von dem Betonmischer überfahren wurde, den Unfall wohl nicht überleben wird. Ein Rettungswagen konnte sie nicht erreichen, mutmaßlich auch deshalb, weil Klimaaktivisten der Letzten Generation die Straßen blockierten. Die Klimademonstranten machen derzeit fast täglich auf Berlins Straßen oder in Berliner Museen Schlagzeilen.

Im Interview mit der Berliner Zeitung nimmt Henning Jeschke von der Letzten Generation Stellung zum Hirntod der Radfahrerin. Er ist bekannt geworden durch seinen Hungerstreik vor dem Kanzleramt vor einem Jahr. Mittlerweile sind laut Medienberichten zwei Aktivisten wegen Behinderung des Verkehrs angezeigt worden. 

Berliner Zeitung: Die Radfahrerin, die am Montag von einem Betonmischer eingeklemmt wurde, ist nun hirntot. Inwiefern sehen Sie die Letzte Generation in der Verantwortung?

Henning Jeschke: Viele Medien versuchen das zu konstruieren, aber machen es sich zu einfach. Was nach unseren Informationen passierte: In Berlin, einer Großstadt kurz vor dem Verkehrsinfarkt, überrollte ein Betonmischer eine schutzlose Radfahrerin. Die Rettungskräfte waren schnell vor Ort, ein spezielles Bergungsfahrzeug aber nicht, sodass sie mit einer anderen Technik befreit wurde. Das passierte an einem Tag mit wiederholten Unterbrechungen des Autobahnverkehrs durch Unterstützer:innen der Letzten Generation, die einen verfassungswidrigen Regierungskurs bekämpfen. Wie der Protest auf einer Brücke über der A100 damit etwas zu tun hat, ist unklar. Ein Retter des Montags hat sich dazu allerdings bei Twitter geäußert, und bei der Feuerwehr wurde bereits angefragt, diese Aussage zu kommentieren.

Hätten Autos besser ausweichen oder am Unfallort vorbeifahren können, wenn die Aktivisten nicht auf der Straße gewesen wären? Wie war die Lage vor Ort?

Es waren dort keine Menschen auf der Straße, es gab eine von der Letzten Generation besetzte Schilderbrücke über der Autobahn A100. Wie jedes Mal informierten und alarmierten wir die Polizei, bevor wir auf die Schilderbrücken stiegen. Sie sperrte und regelte den Verkehr auf der A100. Wie die Autofahrenden eine Rettungsgasse bildeten oder nicht, ist nur für die Feuerwehrleute auszumachen. Was diese in privaten Gesprächen genauso stört wie uns: Nach wie vor wird das wirtschaftliche Profitsystem über das Leben von Menschen gestellt, und die Regierung versagt, beim Klimazusammenbruch zu handeln, sodass friedlicher Widerstand wichtig wird.

Die Radfahrerin war bereits befreit, als der Rettungswagen zum Unfallort kam. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass der Tod von Verkehrsteilnehmenden in Zukunft eindeutiger einer Aktion der Letzten Generation zugeordnet wird?

Das ist eine abstrakte Frage, die am wichtigsten Punkt vorbeigeht. Es ist sicherlich für die Leser:innen viel interessanter, zu erfahren, ab wann wir hier in Europa kein Essen mehr haben werden und wie Inflation, Kriege und CO₂-Emissionen zusammenhängen. Junge Menschen haben lange genug immer nur brav die abstrakten Fragen beantwortet und sind bei den realen Bedrohungen zu leise geblieben. Wir werden das nicht tun.

War Ihnen die Möglichkeit eines Unfalls, bei dem Sie der Grund für eine Verzögerung sein könnten, bereits vor dem Vorfall bewusst? Und was haben Sie getan, um solche Szenarien zu verhindern?

Wir gehen so besonnen vor wie möglich und gleichzeitig so disruptiv wie nötig. Wir unterbrechen auch durch die effektiven Schilderbrücken und geben vorab der Polizei Bescheid, sodass sie den Verkehr regelt. Das Ganze darf man nur mit verdammt gutem Grund. Die Frage ist: Wann wäre es Ihnen genug und Sie kleben sich auf die Straße? Für uns ist mit der Vertreibung und dem Mord an Milliarden Menschen in diesem Jahrhundert eine Grenze überschritten, bei der am Rande stehen und kommentieren unethisch wird.

Wie stellen Sie sicher, dass bei den Aktionen eine Rettungsgasse bleibt?

Das kann keiner sicherstellen und wir sind nicht Gott. Wir können an die Autofahrenden nur appellieren, sich so zu verhalten, dass es klappt. In der Mitte jeder Straßenblockade sind die Menschen nie festgeklebt, sodass sie aufspringen können. Auch arbeiten wir da mit der Polizei zusammen, die sehr schnell da ist und oft mehr Informationen zu möglichen Notfällen hat. Es wäre doch am allerbesten, wenn es uns und die Unterbrechungen gar nicht bräuchte: Schon der offene Brief im September hätte reichen können, dass die Bundesregierung den Notfall anerkennt und die ersten Schritte eines überfälligen Tempolimits und eines effektiven und gerechten 9-Euro-Bahntickets geht.

Das Klima ist nicht wie eine Treppe, die man hinabgeht und auf der man bei jeder Stufe stehen bleiben kann. Es gleicht eher einem Abhang, der immer rutschiger wird, bis wir die Kontrolle verlieren. Top-Wissenschaftler vermuten diesen Punkt bei gleichem fossilen Ausbaukurs in ungefähr zwei Jahren. Sicher wissen wir es erst, wenn es zu spät ist.