Persönlichkeit in der Geschichte

Kanzler für eine Zeitenwende: Auf Hardenbergs Reformen konnte Deutschland bauen

In Existenznot wagte Preußen den Aufbruch. Die gestaltende Kraft, Karl August Fürst von Hardenberg, starb vor 200 Jahren. Es lohnt, ihn wiederzuentdecken.

Karl August Fürst von Hardenberg, leitete als preußischer Staatskanzler eine neue Ära ein.
Karl August Fürst von Hardenberg, leitete als preußischer Staatskanzler eine neue Ära ein.Thomas Lawrence

Das größte Reformprojekt der deutschen Geschichte begann, als der Staat Preußen am Abgrund stand: Napoleon hatte dessen Armee vernichtet, zwei Jahre lang mit seinen Truppen Berlin besetzt, den Königshof ins Exil gedrängt. Das friderizianische Preußen war tot, die Ideen der französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit fegten durch Europa – unklar, was sie in Preußen bewirken würden.

Im Frieden von Tilsit teilten Russland und Frankreich am 7. Juli 1807 Europa in eine französische und eine russische Interessensphäre; zwei Tage später schrumpfte der Vertrag mit Preußen das Land hinsichtlich seiner Größe wie seiner Bedeutung. Frankreich auferlegte dem quasi bankrotten Rumpfstaat gigantische Kontributionszahlungen, plus sämtliche Besatzungskosten. Wie sollte sich Preußen in dieser Lage zwischen rivalisierenden Großmächten behaupten?

Reif für die Zeitenwende

Jetzt erst war die Lage dramatisch genug, eigentlich aussichtslos, um König Friedrich Wilhelm III. die Zustimmung zu einer Zeitenwende abzuringen: Mithilfe grundlegender Reformen war eine neue Gesellschafts- und Staatsverfassung zu erschaffen. Das Drehbuch für den Umbruch lieferte nur zwei Monate nach der „Schmach von Tilsit“ Karl August von Hardenberg, damals 57 Jahre alt.

Seine im Auftrag des Königs noch im Exil verfasste Rigaer Denkschrift enthielt ein umfassendes Reformprogramm – von der Religion (Der Staat übe Toleranz!) bis zur Geopolitik (Wie vermeiden wir gänzliche Abhängigkeit?) nahm Hardenberg alles in den Blick – und schuf zugleich ein für die Zeit erstaunliches Dokument von Humanismus, Kühnheit und Realitätssinn. Eine „Revolution im guten Sinne“ schwebte ihm vor – zu vollbringen durch „Weisheit der Regierung“. Eine Revolution von oben.

Eben hatte Preußen noch im jahrhundertelang verfestigten Feudalismus gesteckt, nun schrieb Hardenberg: „Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“ Königtum als stabilisierendes Element plus Verfassung und Parlament, so wie er es in England kennengelernt hatte, das war seine Grundidee.

Weitere von ihm formulierte Prinzipien lauteten: „Herstellung des möglichst freien Gebrauchs der Kräfte der Staatsbürger aller Klassen“, „Abschaffung aller Polster der Trägheit“ – also durch Stand statt durch Leistung erworbener Vorrechte. Den König rief Hardenberg auf, die Radikalkur nicht zu scheuen und „mit starker Hand die nötigen Maßregeln – ja keine halben – ergreifen! Hindernisse werden sich genug auftürmen, aber sie werden zusammenfallen, wenn man ohne Weitläufigkeit und mit Mut auf sie los geht.“ Zeit sei nicht zu verlieren: „Man übertrage die Ausführung nicht großen zusammengesetzten Kommissionen, frage nicht viele Behörden.“ Wenige einsichtsvolle Männer sollten die Ausführung leiten.

Blick in die Sonderausstellung zu Karl August von Hardenberg im Schloss Neuhardenberg.
Blick in die Sonderausstellung zu Karl August von Hardenberg im Schloss Neuhardenberg.20th Century Studios 20th Century Studios/Nicole Czerwinka

Den 1807 als Staatsminister eingesetzten Karl Freiherr vom Stein unterstützte Hardenberg trotz persönlicher Animositäten. Der schroffe Herr („Er ist zu sehr Stein“, wie Königin Luise urteilte) beargwöhnte den gutaussehenden, freigeistigen, verschwenderisch-großzügigen, weltläufigen und überaus cleveren Frauenschwarm Hardenberg und nannte ihn „halb Fuchs, halb Bock“.

Fünf Tage nach seiner Ernennung dekretierte Stein im „Oktoberedikt“ das Ende von Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit. Bauern und Gesinde erhielten das Recht zu leben, wo sie wollten und zu heiraten, wen sie wollten. Hunderttausende bislang abhängig Versorgte stürzten in die Ungewissheiten der Freiheit und bildeten das Arbeitskräfteheer für die anhebende Industrialisierung, den Kapitalismus.

Neuer Staat durch große Reformen

Was der moderne Staat brauchte, entstand nun: Im November 1808 trat mit der neuen Städteordnung die kommunale Selbstverwaltung in Kraft. Eine weitere Reform beseitigte im selben Jahr konkurrierende Behörden und konstituierte das „klassische Kabinett“ mit fünf Ministerien und klaren Zuständigkeiten: Äußeres, Inneres, Finanzen, Justiz und Krieg. Der Staat wurde schlanker, sparsamer, effizienter und realitätsnäher.

Im laufenden Reformprozess trat Hardenberg am 4. Juli 1810 das eigens für ihn geschaffene, mit großer Machtfülle ausgestattete Amt des Staatskanzlers an. Napoleon traute allein Hardenberg zu, die von ihm verlangten Kontributionen beizutreiben. Der König wiederum baute auf Hardenbergs Schläue, von Napoleon unbemerkt Preußen wieder stark zu machen.

Das Meisterstück: die Judenemanzipation

Deutlich moderner als der ausgebootete vom Stein weitete Hardenberg dessen Reformen erheblich aus. Das Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 verpflichtete den bislang verschonten Adel zum Steuerzahlen. Das Regulierungsedikt von 1811 befreite die Bauern von Fron und Abgaben. Das Gewerbesteuergesetz ermöglichte freies Unternehmertum. Es wurden einheitliche Zölle für die Außengrenze festgelegt und die vielfältigen Binnenzölle abgeschafft.

1812 gelang Hardenbergs Meisterstück: Das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“ machte die Ausgegrenzten zu vollgültigen Staatsbürgern, gab ihnen Gemeindebürgerrecht, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit und erlaubte ihnen akademische Berufe. Vom gehobenen Staatsdienst blieben sie ausgeschlossen.

Der Widerstand gegen die Judenemanzipation war immens. So giftete Caroline von Humboldt in einem Brief an ihren Mann Wilhelm, Mitstreiter Hardenbergs: Die Juden würden sich ihrer Rechte nur zum Schachern und Handeln bedienen; sie seien „ein Flecken der Menschheit“. Tatsächlich verstanden es Juden in den kommenden Jahrzehnten weit besser als ihre christlichen Zeitgenossen, die neuen Freiheiten für sozialen Aufstieg zu nutzen.

Volksheer ja, Verfassung nein

Ein Ziel erreichte Hardenberg trotz allen Redens bei Friedrich Wilhelm III. nicht: Einer Verfassung im Sinne einer konstitutionellen Monarchie stimmte der König nicht zu. Andererseits finanzierte Hardenberg mit stillem Einverständnis des Monarchen den von französischen Spionen beargwöhnten Aufbau eines Volksheeres, geleitet von den Generälen Scharnhorst und Gneisenau. Kaum war Napoleons Russland-Feldzug gescheitert, stand die reformierte Armee Preußens 1813 bereit und ging siegreich aus den Befreiungskriegen hervor.

Infobox image
Im September 2022 trafen sich die G7-Handelsminister im Schloss Neuhardenberg.  AFP
Nach Neuhardenberg
Die AusstellungHardenberg: Aristokrat – Staatsmann – Reformer. Porträt eines Lebens“ ist bis 4. Dezember in der Ausstellungshalle des Schlosses Neuhardenberg zu sehen, sonnabends und sonntags von 11 bis 16 Uhr.

Die Debatte „Stillstand im Reformstau. Blockiert sich die Demokratie selbst“ führen am 27. November, 16 Uhr, in der Schinkelkirche Jürgen Trittin, Christoph Stölzl, Pascale Hugues und Basil Kerski.

Ein Gottesdienst zu Ehren Hardenbergs in der Schinkelkirche findet am 27. November um 14 Uhr statt.

Für seine Verdienste erhob der König Hardenberg zum Fürsten und belehnte ihn mit dem Gut Quilitz im Oderland, bald Neuhardenberg genannt. Im dortigen Schloss und abseits der großen Aufmerksamkeit, die der Staatskanzler in heutigen Zeitenwende-Zeiten verdient hätte, widmet sich die vorzügliche Ausstellung „Hardenberg. Aristokrat – Staatsmann – Reformer“ dem Namensgeber.

Mit einzigartigen Objekten wie der Totenmaske des Fürsten und dem originalen Abschlussdokument des Wiener Kongresses (1815) über die Neuordnung Europas mit Hardenbergs Unterschrift und Siegel sowie zahlreichen persönlichen Stücken, stellt sie ihn an den Platz, den einer der bedeutendsten deutschen Reformer verdient.

Was interessiert angesichts heute handelnder Politiker besonders an diesem Staatsmann? Was befähigte ihn, mutig und verantwortungsvoll eine existenzielle Staatskrise zu meistern und unumgängliche Veränderungen zu wagen? Die Ausstellung gibt Hinweise. So beschrieb ein Sekretär, der für Hardenberg arbeitete, als dieser von 1790 an für 14 Jahre das damals preußische Ansbach-Bayreuth reformierte, seinen Chef wie folgt:

„Derjenige, der nur kleine, deutsche, schulmeisterische, hinter einem halb Dutzend Vorzimmern verschlossene und von Bettelvolk belagerte Minister“ kenne, könne sich keinen Begriff machen „von der Leutseligkeit, Liebenswürdigkeit und Zugänglichkeit“ Hardenbergs, der habe „sogar Kenntnis genommen von den häuslichen Verhältnissen seiner Untergebenen! Ein Menschenfreund. Ein aufgeklärter Bürger.“

Hardenberg, die Frauen und das schöne Leben: Die Ausstellung im Schloss Neuhardenberg widmet dieser Facette der Persönlichkeit Hardenbergs eine eigene Abteilung. Hier eine festlich gedeckte Tafel mit vielen Original-Gerätschaften.
Hardenberg, die Frauen und das schöne Leben: Die Ausstellung im Schloss Neuhardenberg widmet dieser Facette der Persönlichkeit Hardenbergs eine eigene Abteilung. Hier eine festlich gedeckte Tafel mit vielen Original-Gerätschaften.20th Century Studios 20th Century Studios/Patrick Pleul

Der Umbau der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth brachte Hardenberg den Ruf des erfolgreichen Sanierers ein: Die Provinz erwirtschaftete rasch Gewinne, die Hardenberg in den Aufbau der Armenfürsorge und eines Gesundheitssystems investierte. Er umgab sich mit unruhigen, frei denkenden Persönlichkeiten. Zeitgenossen klagten über deren komplizierten Charakter.

Die meisten alteingesessenen Aristokraten beschimpften Hardenberg als Radikalen. Folglich schwand sein Einfluss, kaum dass Napoleon geschlagen war. Der Reformdruck ließ sofort nach. Als der Fürst am 26. November 1822 in Genua verstarb, nahm man das in Berlin kühl zur Kenntnis.

Der Blick der Nachwelt

Die Nationalrevolutionäre von 1848 verachteten den alteuropäisch geprägten Hardenberg als Kompromissler und Judenfreund. Viele deutsche Demokraten redeten damals derart juden-, slawen- und franzosenfeindlich, dass es einen graust.

Die Nationalsozialisten ignorierten den Nicht-Nationalisten Hardenberg; der DDR war er zu adelig, und Neuhardenberg wurde vorübergehend in Marxwalde umbenannt. Sein 1907 auf dem Dönhoffplatz aufgestelltes Denkmal ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Erst Walter Momper ließ 2005 eine Kopie herstellen. Sie steht vor dem Berliner Abgeordnetenhaus.

Das skurrilste Stück Hardenberg überdauerte in der Schinkelkirche in Neuhardenberg, gleich gegenüber vom Schloss: des Staatskanzlers Herz, faustgroß und blassbeige. Es ruht an der Rückseite des Altars unter einer Glasglocke in einer gemauerten Nische hinter einem hölzernen Türchen, das wiederum von einer Schrifttafel verdeckt ist.

Wieder einmal: Neuordnung

Ein Arzt präparierte es in Genua für den Heimtransport. Wenig später erreichte es die letzte Ruhestätte. Anders der einbalsamierte Leichnam in seinem Bleisarg. Die Ausstellung zeichnet seine letzte Reise nach: per Schiff vom Sterbeort Genua nach Hamburg, dann über Elbe und Havel nach Berlin und Neuhardenberg, wo er 1824 in einem bescheidenen Mausoleum an der Rückseite der Schinkelkirche zur Ruhe kam.

Heute geht es wieder um die Neuordnung internationaler Anhängigkeiten. Nach Jahren der Globalisierung und Liberalisierung deutet sich eine Restaurationszeit an. In dieser Lage sind kreative Reformer, die vermitteln statt spalten, gefragt.

Was wäre heute in Deutschland mit den Dimensionen der Stein-Hardenberg’schen Reformen vergleichbar? Das Mindeste wäre das Beenden sämtlicher klimaschädlicher Subventionen; revolutionärer die Abschaffung von anstrengungslos erlangten Erbschaften – im Gegenzug gleichermaßen ausgezeichnete Bildung für wirklich alle. Mit seiner Prognose, die „reine Demokratie“ käme erst 2440, könnte Hardenberg recht behalten. Also: Kein Ende der Geschichte, sondern 420 Jahre Arbeit.