Berlin-Es braut sich was zusammen: Krieg, Energiekosten, Inflation, Klimakrise, demografischer Wandel, geopolitische Machtverschiebungen – und die Pandemie ist auch noch nicht vorbei. Ein gefährlicher Mix. Die Leute spüren, dass kurz- wie langfristig existenzielle Bedrohungen nahen. Noch wirken staatliche Geldhilfen und allgemeine Sparbemühungen mildernd.
Auf geradezu klassische Weise gerät die Gesellschaft unter Dauerstress. An den politischen Rändern freuen sich die Extreme auf die Chance, Massen in den Aufruhr zu locken. Rechts wie links und im weiten Feld der Verschwörungstheoriefans plant man den „heißen Herbst“, der in einen „Wutwinter“ übergehen soll.
Berlin und sein „besonderer Menschenschlag“
Unter welchen Umständen aber wuchsen sich Aufstände der Vergangenheit zu Umstürzen aus? Eine „revolutionäre Situation“, in der „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“, ist derzeit nicht auszumachen. Aber es gibt viele Stufen zwischen gepflegtem Demonstrieren, Tumult, Aufruhr, Rebellion, Revolution.
In Berlin war durch die Jahrhunderte immer etwas los. Immer wieder wurde auch versucht, den ausgeprägten Hang zu Tumult und Aufruhr mit Berliner Eigentümlichkeiten in Lebensart und Charakter zu finden. Goethe nannte die Berliner einen „verwegenen Menschenschlag“, der Schriftsteller Heinrich Laube nannte sie „grob und zanksüchtig“.
Es folgt eine unvollständige Auswahl von markanten Berliner Umtrieben:
Berliner lynchen 1325 den Probst von Bernau: Kaum hatte sich die Doppelstadt Berlin/Cölln etabliert, da zeigten die Berliner schon, dass sie nicht zimperlich waren, wenn sie ihre Interessen verteidigten. Die Anfänge zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatten die Gründerpatrone aus dem Hause Askanien günstig gestaltet, indem sie zahlreiche Privilegien an die Bürger vergaben. Doch 1319 war der Letzte dieser Dynastie gestorben; die Entscheidung über die Nachfolge würde schicksalhaft sein. Die Bürger aufstrebender Städte favorisierten die Wittelsbacher, die den Städtern ihrer Herrschaftsgebiete viele Rechte zugestanden und für freien Handel eintraten.

Anders die Anhänger des Papstes, darunter die Pröbste von Berlin und Bernau. Letzteren ergriffen die wutentbrannten Berliner am 8. August 1325 vor der Marienkirche, schlugen ihn tot und verbrannten ihn am selben Tag vor dem Gotteshaus. Der Aufruhr hatte Folgen: Der Bischof verhängte den Bann, es durfte nicht mehr getauft, gebeichtet, geheiratet oder beerdigt werden. Es gab weder Messen noch Glockengeläut. Zehn Jahre lang, bis ein Sühnevertrag geschlossen war. Eine schwere Seelenpein. Der Handel brach infolge eines Boykotts zusammen: Niemand wollte mit solchen Frevlern zu tun haben.
Der Berliner Unwille: Um 1440 setzten die durch Fernhandel reich gewordenen Bürger den Ton für Kommendes. Der nunmehr herrschende Hohenzoller Friedrich II., genannt Eisenzahn, hatte von seinem Hauptsitz Tangermünde aus sein Auge auf den aufstrebenden Standort an der Spree geworfen, wollte ein Schloss auf die strategisch bedeutende Spreeinsel zwischen Langer Brücke und Mühlendamm setzen und von dort aus Stadt und Umgebung beherrschen. Die Patrizier ahnten, dass dieser Umzug ihre Handelsprivilegien und Freiheiten, ihren Wohlstand – die Autonomie des jungen, selbstbewussten Gemeinwesens – bedrohte. Im Frühjahr 1448 setzten Aktivisten die Baugrube des Schlosses unter Wasser. Doch, ach, die Bürgerschaft war derart zerstritten, dass schließlich Eisenzahn triumphierte. Derart inspiriert wagten weitere deutsche Fürsten die Beschneidung städtischer Freiheiten.
Der Berliner Tumult von 1615, auch Calvinistentumult genannt, wuchs sich zum bis dahin größten Aufruhr der Berlin-Cöllner Untertanen gegen ihren Landesfürsten aus. Vordergründig rebellierten die Lutheraner gegen den Übertritt ihres Landesherrn zum weit strengeren Calvinismus und gegen die calvinistische Bilderstürmerei. Im Dom waren alle bildlichen Kunstwerke zerschlagen worden; auch in der Petrikirche sollte ein Bild entfernt werden, das angeblich „Schand und Hurerei“ darstellte. Anders als in anderen Städten schlugen die Auseinandersetzungen in Berlin/Cölln in Gewalt um. Im Hintergrund stand neben den kulturellen Zumutungen durch den strengen Kult auch die große Frage, wie nach dem Übertritt des Fürsten und dem Beharren seiner Gattin auf dem Luthertum die Erbfolge für Brandenburg zu regeln war.

Zwar hatte der Kurfürst die freie Wahl der Konfession, also Religionsfreiheit, zugesichert. Doch argwöhnten die Lutheraner, man werde ihnen dennoch einen ungewollten Glauben aufzwingen – eine angeblich überlegene, reinere und höherwertigere Kultur. Nicht in erster Linie soziale Fragen, sondern die Verteidigung des Gewohnten trieben in diesem Fall Bürger, Handwerksburschen, ehemalige Landsknechte mit Spießen, Säbeln und Musketen bewaffnet zum „Tumultieren“. Schließlich überzeugten brave Bürger die wild Gewordenen, dass das Toleranzversprechen eingehalten werde. Bald fraß der Dreißigjährige Krieg an der kulturellen und gesellschaftlichen Substanz.
Der Weberaufstand von 1844: Zwar brach der erste soziale Protest im Zuge der Industrialisierung nicht in Berlin aus, sondern in Schlesien. Aber dorthin bestanden engste menschliche und wirtschaftliche Beziehungen. Ursache war die Verlagerung der Tuchproduktion weg von einzelnen, in Heimarbeit produzierenden Webern hin zu Fabriken mit mechanischen Webstühlen. Die Weber verloren ihr Einkommen, fielen massenhaft in Armut. Zugleich ließen Missernten in den 1840er-Jahren die Lebensmittelpreise steigen. Gewaltige Vulkanausbrüche in den Tropen hatten die Sonneneinstrahlung auch in Mitteleuropa stark verringert und die sogenannte Kleine Eiszeit bewirkt.
Die Kartoffelrevolution von 1847 gehörte zu den Folgen der Klimaanomalie: Die Hungerrevolte entlud sich zwischen dem 21. April und dem 23. April 1847 in der preußischen Hauptstadt. Die Kälte hatte die Kartoffeln auf den Feldern faulen lassen, die Preise stiegen auf das Fünffache. In Irland verhungerten eine Million Menschen, zwölf Prozent der Bevölkerung. Die Berliner Revolte entlud sich gegen den unmittelbar auszumachenden Betrug – also gegen Bäcker und Fleischer, die durch hohe Preise Gewinn aus der Not schlugen. Übergewinne, sagt man heute. Militär beendete die Revolte. Doch Ruhe kehrte nicht ein.
Die Berliner Märzrevolution brach ein Jahr später aus. Sie erreichte eine bis dahin ungekannte politische Dimension, die weit mehr umfasste als den Protest gegen die verschärfte wirtschaftlich-soziale Notlage. In vielen europäischen Ländern hatten sich in der Landwirtschaft, im städtischen Handwerk, im Finanzwesen, in der traditionellen Heimarbeit enorme von der Industrialisierung getriebene Veränderungen vollzogen. In Preußen erzeugten die langfristigen Folgen der Stein-Hardenbergschen Reformen Modernisierungsstress. Neue soziale Klassen entstanden, die Landflucht ließ die Städte immer schneller wachsen – doch regierte die aristokratische Staatsführung nur zögerlich oder überhaupt nicht. Der Mangel an Reformfreude im Überbau löste allenthalben existenzbedrohende Krisen aus.

Die Revolte hatte im Februar in Paris begonnen und griff schnell auf die Hauptstadt Preußens über. Der König lavierte. Forderungen nach demokratischen Rechten, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, nach einem Parlament etc. wurden vorgetragen. Am 18. März kam es unmittelbar am Schloss zu Barrikadenkämpfen, die die Monarchie niederkartätschen ließ. Doch letztlich erzwangen die Aufständischen das Ende der absoluten Fürstenherrschaft und die Einleitung politischer Reformen.
Der Maschinensturm von Bethanien gehört zu den Ausläufern der 1848er-Revolution: Nach dem Willen des Berliner Magistrats sollten arbeitslose Männer, statt auf den Straßen Unruhe zu stiften, ihre Energie beim Schaufeln verausgaben. Deshalb legten Hunderte sogenannte Rehberger in den Moabiter Rehbergen Sümpfe trocken, und etwa 3000 Notstandsarbeiter gruben den Landwehrkanal und den Luisenstädtischen Kanal. Doch die Arbeiter verbündeten sich untereinander, trugen Lohnkämpfe aus, machten gemeinsame Sache mit den Erdarbeitern anderer Baustellen. Wenn sie einander „besuchten“, gingen die Proteste nicht selten in wilde Alkoholsausen über.
Als eine der neuartigen Dampfmaschinen beim Ausheben der Baugrube des Bethanien-Krankenhauses helfen sollte, fackelten Arbeiter, „befangen im alten Hass der Handwerker gegen Maschinen“ wie es später in Gerichtsprotokollen hieß, die Maschine am 11. Oktober 1848 ab. Weitere „Exzesse“ sollten im Keim erstickt werden. Ausgerechnet Angehörige der als Errungenschaft der Revolution gegründeten Bürgerwehr schossen am 16. Oktober auf die Arbeiter. 13 Tote blieben zurück.
Die Blumenstraßenkrawalle markierten im Juli 1872 ein neues Kapitel des sozialen Aufruhrs. Die Einwohnerzahl hatte sich in den 50 Jahren zuvor vervierfacht und strebte auf eine Million zu. Die Leute lebten unter lausigen Umständen. Als die Familie des Tischlers Hartstock in der Blumenstraße 51c (im heutigen Friedrichshain zwischen Ostbahnhof und Strausberger Platz gelegen) zwangsgeräumt und eine Barackensiedlung vor der Stadt abgerissen werden sollten, brach ein mehrtägiger Aufruhr los, an dem sich Tausende beteiligten.
Die Krawalle in der Blumenstraße waren die ersten dokumentierten Proteste gegen die miserablen Wohnverhältnisse, gegen Mietwucher und Willkür auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Die Polizei beendete die Unruhen nach drei Tagen mit äußerster Gewalt. Hunderte Menschen wurden verletzt und verhaftet, Dutzende gingen ins Gefängnis. Auch unter dem Eindruck dieser, von der rasanten Industrialisierung verschärften Zustände schrieb Friedrich Engels im selben Jahr seine Texte „Zur Wohnungsfrage“. Dieses Problem hockt der Stadt als Dauerproblem im Nacken. Engels empfahl übrigens die „Expropriation“, die Enteignung der Wohnungseigentümer.
Die Novemberrevolution im Jahr 1918 resultierte aus den Kriegsfolgen: Die Wirtschaft war ruiniert, Arbeiter waren an den Fronten gestorben oder versehrt worden, Züge hatten nur noch Kriegsmaterial transportiert. Lieferketten von Industrie und Handel waren gerissen, Umsätze eingebrochen. Die anfänglichen Staatshilfen wie erhöhte Sozialleistungen, Mietbeihilfen, Suppenküchen etc. brachen bei Kriegsende weg. Die Berliner hungerten, froren, starben täglich zu Hunderten an der Influenza. Auf den Straßen herrschte Anarchie: Gedemütigt heimgekehrte, „im Felde ungeschlagene“ Militärs trafen auf revolutionäre Meuterer in Uniform. Die Monarchie fiel, der Umsturz der Verhältnisse war total. Dem Matrosenaufstand und der Novemberrevolution von 1918 folgten die Weihnachtskämpfe 1918, der Januaraufstand 1919, der März-Aufruhr.

Wie das auf die kleinen Leute wirkte, schrieb die Arbeiterin Hedwig Eggert, alleinerziehende Mutter, die sich als achtes von elf Kindern eines Webers und einer Fabrikarbeiterin durch die Kindheit gehungert hatte, auf: Ihren Novemberschock erlebte sie auf dem Potsdamer Platz, wo ein „Hoch- und Niedergebrüll“ herrschte. Die verstörte junge Frau beklagte „ein Drunter und Drüber und keiner wusste, wo er hingehörte. Täglich entstanden neue Parteien. Jeder war des anderen Feind geworden, und alle vergaßen darüber, dass sie eigentlich Deutsche waren und sich hätten einig sein müssen. Keiner war da, der das Volk zur Besinnung brachte und einte. Eine Partei machte die andere schlecht. Ein Mensch, der nun zwischen all den Parteien stand, war unglücklich und glaubte, zerquetscht zu werden.“ Ihr Verdacht: „Da steckt jemand dahinter, der unser Vaterland in den Abgrund ziehen will.“ Hedwig Eggert trat 1928 der NSDAP bei. „Ich hätte mich für die nationalsozialistische Idee in Stücke reißen lassen“, bekannte sie. Sozialistische Verheißungen und nationalistische Verengung hatten in ihr exemplarisch zusammengefunden zur explosivsten Mischung, die sich denken ließ.
Den Mord an Walter Rathenau: Am 14. Juni 1922 erschossen rechtsradikale Geheimbündler den liberalen Außenminister der Weimarer Republik auf offener Straße im Grunewald. Das durchorchestrierte Attentat zielte darauf, die allgemeine Verunsicherung durch einen spektakulären Mord an einen Kipppunkt zu treiben. Die Verschwörer hofften, die Linke werde einen Massenaufstand anzetteln, den dann die Kräfte der alten Macht gewaltsam niederschlagen könnten, um anschließend die Regierung zu übernehmen. Dieser Plan, die Weimarer Demokratie zu vernichten, schlug fehl. Doch der Mord ging als Beispiel für perfides Agieren zur Manipulation riesiger Menschenmassen ins geschichtliche Gedächtnis ein. Dieses Wissen regt zu ständigem Zweifel an: Ist das, was die Oberfläche politischen Geschehens vorspiegelt, tatsächlich die Wahrheit?
Die Berliner Saalschlachten gehörten zu den Phänomenen der extrem polarisierten Spannungen in der späteren Weimarer Zeit. Die Sturmabteilung (SA) der NSDAP und ihre kommunistische Entsprechung, der Rotfrontkämpferbund, lieferten sich in Versammlungssälen (aber nicht nur dort) Massenschlägereien. Durch massive Gewalt versuchten sie, ihre Gegner, aber auch die politische Mitte einzuschüchtern.
Die Mieterstreiks 1932/33 in mehreren Berliner Vierteln resultierten aus der bedrohlichen Wohnsituation Zehntausender kleiner Leute. Reihenweise wurden Arbeiterfamilien, die in Mietrückstand waren, exmittiert. Mietsteigerungen führten in den proletarischen Quartieren zu Zahlungsverweigerung, lautstarken Protesten und organisierter Gegenwehr. Die Losung der Mietstreikbewegung lautete „Erst das Essen, dann die Miete“.

Treibende Kraft war meist die KPD, die sich von der Arbeiter- zur Arbeitslosenpartei entwickelt hatte. Sie agitierte nun vorzugsweise in den Wohnvierteln statt in den Betrieben. Neue Mieterausschüsse mobilisierten Hausgemeinschaften zum Widerstand – wobei sie gezielt die meist sozialdemokratisch basierten Mietervereine umgingen. Während der Moabiter Krawalle tobten im Juni 1932 tagelange Straßenschlachten, die die Polizei mit Panzern und Wasserwerfern niederschlug.
Für den 1. August organisierte die KPD einen berlinweiten Mieterstreik. Zentrales politisches Ziel war die Abschaffung der Hauszinssteuer, die von den Vermietern auf die Miete umgelegt werden konnte. Hauptthemen waren: Mietminderung, Streichung von Mietrückständen, Rücknahme von Kündigungen. Bekannt wurden die Aktionen in Mietskasernen wie in der Köpenicker Straße 34/35 oder der „Wanzenburg“ am Molkenmarkt. Dort präsentierten Mieter in Weckgläsern gesammelte Kakerlaken. Die SPD weigerte sich, mit den kommunistischen Mietaktivisten gemeinsame Sache zu machen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 beendete die Konflikte. Die Mieterausschüsse wurden zerschlagen, die Mietervereine gleichgeschaltet – und die Exmittierungen gestoppt.
Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in Ostberlin wuchs zunächst aus Protesten gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen. Im Untergrund wirkten jedoch auch mächtige politische Kräfte: Kurz nach dem Tod Stalins tobte in der sowjetischen Führung ein Machtkampf. Geheimdienstchef Berija dehnte ihn bis nach Ost-Berlin aus. Er wollte den „Ballast“ DDR abwerfen, ihr die Perspektive eines militärisch neutralen Staates eröffnen. Das suchten andere Kräfte zu verhindern, nutzten den durch die Normerhöhung kochenden Ärger und provozierten den Aufstand vom 17. Juni. Der lieferte den Anlass, mit Panzern aufzufahren. Die Situation wurde eingefroren.

