Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Alpha-Actinin-3-Defizit. Und das kam so: Ich stieß beim morgendlichen Studium der Nachrichten auf den Ratschlag eines Politikers. Ich habe vergessen, um wen genau es sich handelte, doch ich meine mich zu erinnern, dass er in größerem Umfang pensionsberechtigt war. Er schlug vor, den horrenden Preisen für Energie zu entgehen, indem die Energie gar nicht erst verbraucht wird. Dieser Effekt sei zum Beispiel zu erreichen, wenn die heimische Heizung konsequent heruntergeregelt werde.
Bereits zuvor hatte ein anderer hochdotierter Mitmensch diesen Tipp geäußert. Ein Mediziner, also musste ja eigentlich etwas dran sein. Zumal dieser Mitmensch der Chef aller Mediziner weltweit war und ebenso wie der Pensionsbezieher versicherte, dass sich der Mangel an Wärme durch winterfeste Kleidung ausgleichen lasse. Im Pullover könne man es sich auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in den eigenen vier Wänden gemütlich machen und darüber hinaus das Risiko kältebedingter Infekte sowie rheumatischer Beschwerden minimieren. Die beiden formulierten das etwas anders, aber dem Sinn nach fasste ich das so auf.
Ich sah hinüber zum Zimmerthermometer, las 18 Grad Celsius und dachte: Ja, sind die denn noch ganz normal? Wozu einen Pullover? Ein bisschen Frösteln hat noch niemandem geschadet, härtet ab, ist gut für die Immunabwehr. Das sagte ich später dann auch einem Kollegen, der allerdings meinte, wer hier nicht ganz normal sei, stehe ja wohl fest: ich.
Erhitzt von dem Gedanken an eine schwerwiegende Störung meinerseits und durch die Klimaanlage des Büros, tippte ich in eine Suchmaschine die Begriffe „klirrende Kälte“ und „gut aushalten“ und wurde zum Onlineaufritt eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders weitergeleitet. „Wer friert?“, lautete dort die provokante Frage in der Überschrift und die Antwort: „Jeder Fünfte hat Muskeln, die ihn Kälte weniger spüren lassen.“
Wenn die Muskeln langsam zucken, friert man nicht
Der Beitrag klärte mich darüber auf, dass meinen Muskeln ein bestimmtes Protein fehlt, eben jenes Alpha-Actinin-3. Deshalb verfüge ich über langsam zuckende rote Fasern. Die sind langlebiger als die schnell zuckenden weißen Fasern und verwerten die Energie besser, was ihre Besitzer weniger schnell frösteln lässt. Schwedische Forscher haben das herausgefunden.
Endlich mal eine Anomalie, die zu etwas gut ist, dachte ich, vertiefte mich weiter in das Phänomen und erfuhr, dass sich das mit diesem Proteinmangel vermutlich die Evolution ausgedacht hat, dieses listige Luder. Nachdem nämlich meine Vorfahren vor 50.000 Jahren von Afrika nach Europa ausgewandert waren, bemerkten sie rasch, dass es hier ganz schön frisch sein kann, ließen sich aber dadurch nicht kleinkriegen, weil sie mit einer Genvariante ohne dieses Alpha-Actinin-3 ausgestattet waren. Pech dagegen für all die anderen, die fortan als Forstbeulen herumlaufen mussten.

Professor Wikipedia teilte mir ergänzend dazu mit, dass das fragliche Gen die Actininfilamente durch Quervernetzung in der Z-Scheibe eines Sarkomer von Myofibrillen zu verankern hilft. Damit war dann ja alles klar.


