Vor Gericht

Gul A. zum Tod seiner Frau: „Sie sagte, ich habe in Berlin keine Macht über sie“

Gul A. hat seine Ehefrau Zohra G. mit 13 Messerstichen getötet. Am Freitag plädieren seine Verteidiger – und der mutmaßliche Täter selbst. 

Der Angeklagte Gul A. im November 2022 am Landgericht Berlin.
Der Angeklagte Gul A. im November 2022 am Landgericht Berlin.Pressefoto Wagner

Gul A. hat einen hochroten Kopf und reibt sich über die Augen. „Ich muss mich erst beruhigen“, sagt er im Saal 217 des Landgerichts Moabit. Dieses Verhalten kennen die Prozessbeteiligten schon aus den anderen Prozesstagen. „Wo waren wir stehen geblieben?“, fragt Gul A., ein Dolmetscher übersetzt alles. „Genau: bei Covid, 2020.“ In diesem Moment wird dem Zuhörer klar, es wird noch dauern, bis der Vortrag in der Gegenwart ankommt.

Es ist eine Tradition vor Gericht: Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. Bei dem 43 Jahre alten Gul A. sollen daraus sehr viele letzte Worte werden. Seit zwei Stunden redet er. Der Richter hatte bereits eine zehnminütige Pause angeordnet, nach dem Mittag geht es also weiter.

Vor einem Jahr begann der Prozess gegen Gul A., einen  43-Jährigen aus Afghanistan. Gul A. hat seine Ehefrau, Zohra G. auf offener Straße in der Nähe des U-Bahnhofs Pankow mit 13 Messerstichen verletzt und ihr die Kehle durchtrennt. Sie war die Mutter von sechs gemeinsamen Kindern. Dass er die Tat verübt hat, hatte Gul A. bereits gestanden; die Beweislage und genügend Zeugen ließen ihm keine andere Wahl. Nun wird um die Details gestritten.

Gul A. erleidet regelmäßig vor Gericht vermeintliche Schwächeanfälle, sodass die Verhandlung abgebrochen werden muss, er redet dazwischen oder weigert sich, zuzuhören. Die, die gegen ihn aussagen, bezichtigt er der Lüge. Am vorigen Prozesstag hat sein 14-jähriger Sohn gegen ihn ausgesagt, und die Staatsanwälte haben ihre Plädoyers vorgetragen. Ihr einhelliger Urteils-Vorschlag: Lebenslange Freiheitsstrafe. 

Verteidiger von Gul A. plädiert auf Totschlag

Am Freitag sollen die Verteidiger plädieren. Sie sitzen vor ihrem Mandanten, der durch hüfthohe Holzwände vom Raum abgeschirmt auf der Anklagebank sitzt. Zur Tür hin befindet sich ein Gitter, das den Fluchtweg versperren soll. Die Zuschauerreihen des Saales sind bis auf den letzten Platz besetzt. Aktivistinnen und Aktivisten gegen Femizide stehen mit Plakaten und Megafon vor dem Kriminalgericht, einige sitzen im Prozess. Der Richter ermahnt die Demonstrierenden, die Verhandlung nicht zu stören. 

Bei so einem Fall stellen sich zwei zentrale Fragen, so beginnt der Verteidiger sein Plädoyer. Die erste Frage sei, ob Gul A. die Tat begangen habe, sei hinfällig, weil er gestanden habe. Die zweite Frage: Warum wurde die Tat begangen?

Was sich bisher sowohl aus Zeugenaussagen als auch aus Gul A.s eigenem Geständnis ergeben hat, ist, dass es sich hierbei um einen Ehrenmord handelte. Gul A. sagt, er habe seine Frau getötet, weil sie ihm verboten habe, die Kinder weiterhin zu sehen. Mehrere Zeugen, darunter auch sein eigener Sohn, haben das allerdings verneint. Alles weist darauf hin, dass Gul A. sich zur Tat entschieden hat, weil er sich in seiner Ehre verletzt gefühlt hat.

Sein Verteidiger versucht, die Schuld auf äußere Umstände zu schieben, um eine Verurteilung wegen Totschlags zu erreichen, das bedeutet: mindestens fünf Jahre Haft. „Das ist kein Mord“, sagt der Anwalt und begründet, dass Beweise und Indizien zu den niedrigen Beweggründen fehlen würden. Gul A. sei nicht mit der Intention zum Tatort gekommen, seine Ehefrau zu töten und sei sogar zurückgekehrt, ohne die Blutflecke zu verstecken.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft nennt der Verteidiger „sehr eindimensional“. Insbesondere bei Femiziden werde die Perspektive des Angeklagten von den Gerichten außer Acht gelassen. „Selbst der Bundesgerichtshof dreht sich wie ein Fähnchen im Wind.“ Der Verteidiger hat auch seine Erklärung dafür gefunden: „Auch Richter und Staatsanwälte können sich gesellschaftspolitischen Strömungen nicht entziehen.“ 

Von der Zuhörerbank hört man während des Plädoyers regelmäßig ein empörtes Schnauben, diese Geräusche verstärken sich, als Gul A. beginnt zu sprechen. Als Erstes fordert er, aus „seinem Affenkäfig“, wie er es nennt, herausgelassen zu werden, damit er in der Mitte des Raumes aussagen könnte. Er meint die Anklagebank. Dort zu sitzen, nehme ihm das Recht, sich angemessen verteidigen zu können.

Im Iran habe es ihm besser gefallen als in Deutschland

Die Verteidiger unterstützen seine Forderung, der Staatsanwalt hingegen ist empört. Der Richter sagt, er lasse dies „wegen Sicherheitsbedenken“ nicht zu. Gul A. wird wütend, der Nebenkläger mischt sich ein und plötzlich schreien beide im Saal 217. Nach fünf Minuten Beruhigungspause willigt Gul A. ein, sich von der Anklagebank zu äußern.

Dann beginnt eine drei Stunden dauernde Erzählung: Über sein Leben in Afghanistan, im Iran, in Griechenland und in Deutschland. Beinahe nichts davon berührt den Fall. Er erzählt, wie sehr ihm das Leben im Iran gefallen habe, dass er nur für seine Frau nach Deutschland gekommen sei. „Im Iran haben die Frauen viel weniger Rechte“, sagt er. Er sei ein guter Ehemann gewesen, habe seiner Frau „sogar erlaubt“, einen Englisch-Kurs zu machen. 

Kurz vor 15.30 Uhr kommt er zu dem Teil der Geschichte, in der die Familie in Deutschland gelebt hat. „Ein Jahr in Deutschland war meine Frau völlig in Ordnung“, sagt er, „plötzlich war sie völlig verwandelt.“ In Berlin sei sie faul gewesen, eine „schlechte Mutter“. Sie habe ihn verlassen, einen neuen Mann getroffen, ihm kein Geld gegeben. Er reibt sich die Augen: „Warum hat sie mir das angetan?“ Sie habe zu ihm gesagt, dass er in Berlin keine Macht über sie mehr habe. 

Zu dem Punkt, an dem er sie tötet, kommt er in seiner Erzählung am Freitag nicht mehr. Die Verhandlung wird beendet, ein neuer Prozesstag ausgemacht. Alle Beteiligten wirken ziemlich ermüdet. Nur Gul A. wirkt zum ersten Mal frisch in der Verhandlung, sein letztes Wort – er hat es noch nicht gesprochen.