Die Schilderung war so eindringlich und der Notlage angemessen. Reinhard Bartezky hat sie an diesem Dienstag dem Gesundheitsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses in einer Sondersitzung beschrieben. Der Kinderarzt und Landesvorsitzende des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte sagte: „Wir haben keine Medikamente mehr, keine Plätze in Kinderkliniken mehr, wir müssen acht Krankenhäuser abtelefonieren, um ein freies Bett zu finden.“ Die Welle von Infektionen treffe auf einige grundlegende Fehler im Gesundheitswesen.
Die ambulante Versorgung sei unterfinanziert, das sei einer der Fehler. Durch die Budgetierung der Praxen fehlten rund 80 Prozent im System. Außerdem: „Wir haben einen Fachkräftemangel, wir haben Probleme, MFA zu finden“, sagte Bartezky. Medizinische Fachangestellte sind rar, wie im ganzen Bundesgebiet so auch in der Hauptstadt. „In Berlin wird zu wenig ausgebildet“, erklärte der Kreuzberger Kinderarzt. Dabei machten sich ambulante und stationäre Versorgung gegenseitig Konkurrenz, würden Kliniken den Praxen Krankenschwestern abwerben. Gleichzeitig werde das medizinische Personal mit Bürokratie belastet, Bartezky verwies als Beispiel auf Atteste für Kinder und Jugendliche im Krankheitsfall, die bei Kitas und Schulen vorzulegen seien.
Und dann ist da noch das Problem, dass offensichtlich nicht alle niedergelassenen Kinderärzte die Grundversorgung mittragen, gerechnet in Köpfen klang das aus dem Mund des Kreuzberger Arztes und Medizinerfunktionärs so: Von mehr als 380 Köpfen „übernehmen nur 170 bis 180 Impfungen in einem signifikanten Umfang“. Insbesondere in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) würden zum Teil andere Schwerpunkte gesetzt.
Es ist Wahlkampf in Berlin, und so stand neben den grundsätzlichen Fehlern des Systems das Krisenmanagement von Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) im Ausschuss zur Debatte. Die beschrieb eingangs noch einmal die „starke Welle von Atemwegsinfektionen“: Sehr viele junge und jüngste Patienten treffen auf erkranktes medizinisches Personal. Sie erläuterte erste Maßnahmen: Etwa, dass Kinderstationen das Pflegepersonal aufstockten, indem sie Beschäftigte aus anderen Abteilungen mit den Fachkräften zu gemischten Teams ergänzten. „In der Charité können auf diese Weise nahezu alle Betten auf den Kinder-Intensivstationen wieder betrieben werden.“ Das Uniklinikum steuere zudem die Belegung von Stationen über ein Save-System, das sich in der Hochphase der Corona-Pandemie bewährt habe.
Opposition wirft Gote schlechtes Krisenmanagement vor
Christian Zander, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, hatte der Grünen-Politikerin schon vor der Sitzung bescheinigt, sie sei mit der Krisensituation überfordert, und sah sich dabei im Einklang mit seinem Oppositionskollegen Florian Kluckert (FDP). Gote, so Zander, habe es trotz ernster Lage versäumt, „diejenigen einzubinden, die die Kohlen aus dem Feuer holen. Sonst hätte sie nicht Vertreter der Pflege- und Gesundheitsberufe von ihrem Krisentisch ausgeschlossen und es an Wertschätzung für alle Beschäftigten vermissen lassen.“ Zander warf Gote vor, die Verantwortung auf ihre Vorgänger abzuschieben.
Tatsächlich hat sich der Investitionsstau bei den 60 Kliniken der Stadt nicht erst unter dem rot-grün-roten Senat, sondern lange vorher unter Vorgängerregierungen gebildet. Nach dem Konzept der deutschen Krankenhausfinanzierung sind die Bundesländer gesetzlich dazu verpflichtet, für alle Kliniken in ihrem Verantwortungsbereich die Investitionen zu übernehmen, nicht nur bei kommunalen Einrichtungen, sondern auch der privaten und freigemeinnützigen Träger. Das geschah jedoch nicht oder nur unzureichend.
Marc Schreiner wird nicht müde, darauf hinzuweisen. Der Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft tat dies auch am Dienstag im Ausschuss, wo er ebenfalls als Sachverständiger gehört wurde. „Sie tragen mit der Unterfinanzierung der Krankenhäuser über Jahrzehnte eine Mitschuld an der Situation“, sagte Schreiner. Und zu dem entscheidenden Problem des Personalmangels meinte er: „Wir wünschen uns, dass die stille Reserve zurückgeholt wird.“ Damit sind jene Pflegekräfte gemeint, die den Beruf wegen hoher Belastung aufgegeben haben. Zuvor hatte Senatorin Gote für den Jahresanfang 2023 einen Pflegegipfel angekündigt.
Dort soll auch besprochen werden, wie die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester in Berlin wieder eingeführt werden kann. Allein Hamburg hat daran festgehalten, die übrigen Bundesländer haben sie abgeschafft, bieten nur eine generalistische Lehre an. „Hamburg hat – oh Wunder – nicht die Notlage wie wir“, sagte Klemens Raile, Chefarzt der Vivantes-Kinderklinik Neukölln. Die kooperiert erfolgreich mit der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV). Eine KV-Notfallpraxis übernimmt dort all jene Fälle, die nach einer ersten Untersuchung am Empfang für eine ambulante Behandlung infrage kommen, immerhin an die 90 Prozent machen sie aus.
Kassenärzte: „Riesenproblem, geeignete Praxisräume zu finden“
Auch KV-Vorstand Burkhard Ruppert lobte die Kooperation, beklagte aber als Repräsentant der Kassenärzte ein „Riesenproblem, geeignete Praxisräume zu finden“ – und wurde ebenfalls grundsätzlich: Die Dichte an Kinderärzten entspreche längst nicht mehr der stark angewachsenen Bevölkerung Berlins. „Vor allem im Ostteil der Stadt, aber auch in Spandau hat sich die Lage verschlechtert.“




