35 Jahre war alles gut.“ Der Mann, der das feststellt, ist groß gewachsen und hager. Er ist 64 Jahre alt, Handwerker und Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Als Rolf D.* vor wenigen Tagen diesen einen Satz im Saal 207 des Landgerichts in Frankfurt (Oder) sagt, bricht ihm die Stimme weg. Er atmet tief, muss sichtbar schlucken. Schweigt, als erwarte er eine Erklärung für das, was er eine „Katastrophe“ nennt. Dann greift er zu der Wasserflasche, die vor ihm auf dem Tisch steht und die schon halb leer ist.
Im Saal ist es still. Rolf D. räuspert sich, dann redet er weiter, nun wieder ruhig und mit sonorer Stimme. Er ist Zeuge im Prozess um den gewaltsamen Tod von Karin D. Die Frau war 80 Jahre alt, als sie einen Tag vor Heiligabend im vorigen Jahr auf ihrem Grundstück in Schöneiche bei Berlin getötet wurde. Der Täter hatte ihr – vermutlich durch Tritte gegen den Kopf – den rechten Schläfenmuskel zertrümmert und ihr mehrere Stiche in den Rücken versetzt. Karin D. verblutete.
Nicht weit von Rolf D. entfernt sitzt der mutmaßliche Täter. Mit zusammengepressten Lippen starrt er reglos auf das Laminat in der Mitte des Saals, wirkt, als würde er träumen. Seit Mitte September läuft gegen ihn vor der Schwurgerichtskammer ein Sicherungsverfahren wegen Totschlags. Nach einem vorläufigen psychiatrischen Gutachten leidet er an einer paranoiden Schizophrenie. Er soll die alte Dame im Zustand der Schuldunfähigkeit umgebracht haben. Deswegen strebt die Staatsanwältin die Unterbringung im Maßregelvollzug an.
Der mutmaßliche Täter heißt Stephan D. Er ist 38 Jahre alt und ebenso groß und hager wie der Zeuge. Nicht nur die Statur, auch die Gesichtszüge der beiden Männer ähneln sich stark. Der Zeuge Rolf D. ist der Sohn der getöteten Frau, und er ist der Vater des mutmaßlichen Täters.
Rolf D. hätte als Verwandter die Aussage verweigern können, doch er will reden. Er habe bemerkt, dass mit seinem Sohn etwas nicht stimme und mehrfach versucht, ihm Hilfe anzubieten, auch selbst Unterstützung beim Sozialpsychiatrischen Dienst gesucht, sagt er. Aus seinen Worten ist die Verzweiflung eines Menschen herauszuhören, der viel versucht, doch nichts erreicht hat. Was er erzählt, klingt dramatisch.
Stephan D. wurde von seiner Oma geliebt und verwöhnt
Karin D. lebte in Schöneiche, einer 13.000-Einwohner-Gemeinde am Rande Berlins. Seit dem Tod ihres Mannes, eines Polizisten, war sie Witwe. Drei Dinge seien seiner Mutter bis ins hohe Alter wichtig gewesen, erzählt Rolf D. Ihr Beruf als Friseurin, den sie 66 Jahre ausgeübt hatte, das Wohnhaus in Schöneiche mit dem separaten kleinen Salon, in dem sie noch immer Haare schnitt und sich etwas zur Rente dazuverdiente. Und Stephan D., ihr älterer Enkelsohn. Sie liebte und verwöhnte ihn.
Vor sechs Jahren zog Stephan D. in das Gartenhäuschen auf dem Nachbargrundstück der Großmutter, das der Familie seit DDR-Zeiten ebenfalls gehörte. „Ich habe gedacht, so könnte er ab und zu mal nach seiner Oma schauen, ihr im Garten helfen“, erzählt Rolf D. Sein Sohn habe das Haus renoviert, Freunde halfen, das Dach neu zu decken. „Alles war gut“, wiederholt der Vater.
Stephan D. wuchs nach der Scheidung der Eltern bei seinem Vater auf, war oft bei der Oma. Nach der elften Klasse verließ er wegen schlechter Leistungen das Gymnasium. Er hatte, wie er selbst sagt, keinen Bock mehr auf Schule, die falschen Freunde, er rauchte Cannabis, nahm später auch mal Kokain. Die Bundeswehr brachte wieder Ordnung in sein Leben. Anschließend machte er eine Ausbildung zum Wachschützer. Dann folgte eine weitere Lehre. Er wurde Erzieher.
Mit 27 Jahren begann Stephan D. in der Grundschule in Schöneiche, einen Steinwurf von seinem Haus und dem Grundstück seiner Großmutter entfernt, zu arbeiten. Die Kinder mochten, die Kollegen schätzten ihn. „Hat Spaß gemacht, war ein toller Job. Kinder sind herrlich und authentisch“, wird Stephan D. über die Zeit sagen, in der er sich gut fühlte.
Vor drei Jahren wurde sein Vater erstmals stutzig. Da sei Stephan fix und fertig von der Arbeit gekommen und habe sich sofort hinlegen müssen. „Sicher ist der Beruf anstrengend. Aber richtig erklären konnten wir uns das nicht“, sagt der Vater.

2021 schenkte Rolf D. seinem Sohn das Grundstück. Die Katastrophe nahm zunächst sacht, dann mit immer größerer Geschwindigkeit ihren Lauf. Irgendwann schloss Stephan D. das Tor ab, das seinen Garten mit dem Grundstück der Oma verband. In seinem Haus wechselte er die Schlösser aus und beklagte sich bei seinem Vater, dass die Hecke zum Nachbarn gestutzt worden sei, er nun beobachtet werde.
Gegen Corona ließ sich Stephan D. nicht impfen. Die angeordneten Tests für die Mitarbeiter der Schule und auch die Maskenpflicht ließ er zunächst über sich ergehen, ignorierte sie aber dann. Bei seiner Arbeit war er plötzlich in sich gekehrt, schaute minutenlang aus dem Fenster. Vermutlich lebte er da schon in seiner eigenen Welt. Ende 2021 verließ er überstürzt und zitternd die Schule, meldete sich zunächst krank, kam dann einfach nicht mehr zur Arbeit. Es folgte die Kündigung.
Stephan D. stellte sein Handy ab, war für die Familie kaum noch erreichbar. Sein Vater stieg mehrmals über den Gartenzaun und klopfte an der Haustür seines Sohnes, weil die Klingel nicht funktionierte. Stephan D. reagierte kaum noch. Zum Arbeitsamt ging er nur einmal, füllte aber die Formulare nicht aus und bezog daher keine Leistungen. Er lebte vom Ersparten, bis das Konto leer war. Mahnungen von seinem Energieversorger und Bußgeldbescheide öffnete er nicht. Sein heißgeliebter BMW und sein Motorrad, an denen er immer herumgeschraubt hatte, interessierten ihn nicht mehr.
Er verschanzte sich in seinem Häuschen, ging nur noch selten aus dem Haus, und wenn er das tat, bekam er Schweißausbrüche. Die Veranda-Fenster verklebte er mit Alufolie, damit seine Großmutter nicht mehr ins Haus schauen konnte. Das Essen, das ihm Karin D. an den Zaun gehängt hatte, beachtete er nicht. Im Garten half er der Oma schon lange nicht mehr. Nicht einmal mehr ein Gruß kam ihm über die Lippen.
Rolf D. erfuhr erst später, dass sein Sohn Mitte des vergangenen Jahres auch übergriffig wurde. Stephan D. war über den Zaun gesprungen, hatte seine Oma zu Boden gestoßen. Im September stand Rolf D. mit seiner Mutter im Garten, als sein Sohn mit dem Auto langsam an ihnen vorbeifuhr und das Fenster herunterließ. „Ich habe einen Mordauftrag“, rief er ihnen zu.
Von nun an stand die Polizei häufiger vor der Tür von Stephan D. Mal wegen einer Bedrohung in einer Bank, mal, weil er mit einer Axt das Auto einer Schulkollegin demoliert haben soll. Die Polizei riet dem besorgten Vater, Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst in Erkner aufzunehmen.
Rolf D. telefonierte mit der Sozialarbeiterin, bekam nach eigenen Angaben die Antwort, wenn sich der Sohn nicht selbst helfen lassen wolle, könne man nichts tun. „Versuchen Sie, ihn zu überzeugen, sich behandeln zu lassen. Im Krankenhaus ist alles bereit“, soll die Sozialarbeiterin gesagt haben.
Doch Vater und Großmutter erreichten Stephan D. nicht mehr. Dem Hausmeister der Schule erzählte Karin D. kurz vor ihrem Tod bei einem Plausch am Gartenzaun, dass sie sich Sorgen um ihren Enkel mache. Stephan brauche Hilfe und bekomme sie nicht. Sie wisse nicht, was sie machen solle. Der Hausmeister hat das als Zeuge vor Gericht ausgesagt.
Die Oma war sehr besorgt, aber sie ging nicht davon aus, dass er psychisch krank oder ein Verbrecher sei.
Im November 2022 geriet Stephan D. mit einer jungen Mutter in Streit, die mit ihrem Kinderwagen vor seinem Grundstück stand. Er fühlte sich verfolgt, wie er nun sagt. Er attackierte die Frau, der Kinderwagen fiel um, das Baby blieb unverletzt. Die Polizei kam. Stephan D. wurde in die Rettungsstelle einer Klinik gebracht und wieder nach Hause geschickt, weil er ruhig und angepasst wirkte.
Der Sozialpsychiatrische Dienst wurde nach Angaben der Leiterin erst später informiert und am nächsten Tag aktiv. Er beantragte wegen einer akuten Fremdgefährdung die Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Ein Richter unterschrieb. Stephan D. wurde für eine Woche in einem Krankenhaus untergebracht.
In dieser Zeit war Rolf D. einmal im Haus seines Sohnes. Noch immer ist ihm die Bestürzung anzumerken, als er davon erzählt. Die Klingel war abgestellt, keine Lampe hing mehr an der Decke, die Steckdosen waren abmontiert. Fernseher, Radio, Klimaanlage und Lüfter abgebaut, sämtliche Thermostate herausgerissen. Im Keller hatte sein Sohn das Telefonkabel herausgefetzt und den Wasserzähler dick mit Silberpapier umwickelt.
Stephan D. erzählte den Ärzten in der Klinik, er sei in ein Loch gefallen, weil ihn die Familie außerordentlich unter Druck gesetzt habe. Er wolle nur in Ruhe gelassen werden, komme allein zurecht. Da die Ärzte keine Möglichkeit sahen, ihn gegen seinen Willen länger festzuhalten, wurde er entlassen. Noch am selben Tag rief er seinen Vater und die Oma an, drohte, die Polizei zu holen, wenn sie noch einmal sein Grundstück betreten würden.
Danach gab es keine Auffälligkeiten mehr, also auch keinen Grund, einzugreifen. So erklärt es die Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes vor Gericht. Stephan D. habe sich unauffällig verhalten. Sein Vater habe dies in Telefonaten auch bestätigt. Und die Oma habe im Gespräch erklärt, nie den Glauben an Stephan D. verloren zu haben. „Sie war sehr besorgt, aber sie ging nicht davon aus, dass er psychisch krank oder ein Verbrecher sei.“
Dann kam der 23. Dezember.
An jenem Tag hatte Karin D. noch gearbeitet. Ihr letzter Kunde war ein 86-jähriger Mann, der die Friseurin gegen 12.30 Uhr in ihrem Salon fand. Sie lag in einer Blutlache. Weil er kein Handy dabei hatte, wollte er Nachbarn um Hilfe bitten. Auf dem angrenzenden Grundstück sah er Stephan D., dem er zurief, der Großmutter sei etwas geschehen. Doch der Enkelsohn reagierte nicht. Er stieg in seinen blauen BMW und fuhr davon. Andere Nachbarn alarmierten die Polizei.
Wenig später konnten die Beamten das Auto des tatverdächtigen Enkels auf der Bundesstraße 1 bei Vogelsdorf stoppen. Stephan D. soll versucht haben, bei seiner Festnahme einer Beamtin die Waffe zu entreißen. Dabei löste sich ein Schuss, der ihn an der Hand und am Oberschenkel traf. Auch zwei Beamte wurde bei der Festnahme verletzt.
Das Tötungsdelikt in Schöneiche weckt Erinnerungen an Jan G., der im Februar 2017 unter Drogen in Müllrose zuerst seine Großmutter ermordete und auf der Flucht zwei Polizeibeamte getötet hatte. In beiden Fällen hatten Verwandte der psychisch auffälligen Männer die Behörden um Hilfe gebeten.
Rolf Lindemann war bis vor kurzem Landrat von Oder-Spree. In seine Amtszeit fielen beide Taten. Der SPD-Mann weist schon seit langem auf die Gefahren hin, die von psychisch kranken Gewalttätern ausgehen und die Landesregierung auf das Problem aufmerksam gemacht. Es müsse Therapieeinrichtungen für alle Stufen der psychischen Erkrankung geben, sagt er der Berliner Zeitung. Es müssten auch spezielle Einrichtungen geschaffen werden, in denen Menschen, die eine ständige Gefahr für ihre Umgebung darstellten, verwahrt würden – ähnlich wie beim Maßregelvollzug.
Beschuldigter fühlte sich vom Geheimdienst beobachtet
Lindemann sagt, dass ihm schon im Jahr 2018 von der damals amtierenden Gesundheitsministerin versichert worden sei, dass die Erkenntnisse aus dem Fall Jan G. in die brandenburgische Psychiatriereform einfließen würden. „Das hat sich alles in Wohlgefallen aufgelöst“, sagt er nun. Stattdessen habe er später nur noch in „versammelte Hilflosigkeit“ geschaut. Seinem Appell haben sich mittlerweile auch andere Landräte angeschlossen.
Stephan D. saß nach der Tat zunächst in Untersuchungshaft, wurde dann aber in die forensische Psychiatrie verlegt. Medikamente hätten ihm geholfen, wieder zu sich zu kommen, sagt er nun. Wann es losgegangen sei mit seinen Wahnvorstellungen, könne er nicht mehr einordnen. Alles habe begonnen, als ein Polizeihubschrauber über seinem Haus gekreist sei. Er habe sich in verrückte Sachen hineingesteigert. „Ich dachte, der Geheimdienst beobachtet mich und würde mich irgendwann abholen.“
Im Prozess hat Stephan D. erklärt, dass ihm alles sehr unangenehm sei. Zum Tattag selbst hat er sich noch nicht geäußert – auf Anraten seines Anwalts. Am Freitag wird der psychiatrische Sachverständige sein Gutachten halten, am Montag schon könnte plädiert werden und die Kammer ihre Entscheidung treffen. Höchstwahrscheinlich wird Stephan D. in den Maßregelvollzug kommen.






