Es ist morgens halb sieben. Eine graue Schicht aus Wolken liegt wie ein Schatten über der Stadt. Es nieselt. So sieht also Kiew aus, denke ich, als ich nach einer der unbequemsten Nächte meines Lebens aus dem Reisebus klettere. Das Grau des Busbahnhofs rundet die dezent depressive Stimmung ab. Was zur Hölle habe ich mir nur dabei gedacht, freiwillig in den Krieg zu reisen?
Meine Großmutter hatte den Zweiten Weltkrieg noch erlebt. Im Bombenhagel von Stettin saß sie im Luftschutzbunker und war mit ihren Geschwistern mehrere Tage verschüttet. Zwei Generationen später gibt es wieder einen offenen Landkrieg in Europa, und ich stelle mir ernsthaft die Frage, ob es nicht auf lange Sicht schlau sein könnte, Europa zu verlassen. Aber bevor es so weit ist, muss ich mir diesen Wahnsinn einmal aus der Nähe angeguckt haben.
Wenige Stunden später merke ich, dass ich meine Tapferkeit eventuell überschätzt habe. Die Sirenen schreien ihre Warnungen von den Dächern und unterbrechen meinen Versuch, ein wenig Schlaf nachzuholen. Das Hostel hatte mich vorab informiert, man empfehle, im Falle eines Luftalarms gemeinsam im Untergeschoss auszuharren. Wirklich viel bringe das aber nicht. Sollte eine der russischen Raketen tatsächlich hier eingeschlagen, wäre es ums uns geschehen. Seit Monaten aber gab es keine Treffer mehr, die ukrainische Flugabwehr holt die allermeisten Geschosse rechtzeitig runter.
Eine halbe Stunde später schickt die App AirAlarm eine Entwarnung raus. Wirklich Angst hatte ich nicht, aber das Gefühl, dass es jederzeit mit einem Schlag vorbei sein kann, wird mich in den nächsten Tagen begleiten – eine Stimmung, in der Wahnsinn ideal gedeihen kann. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Also breche ich zu meinem ersten längeren Spaziergang durch die ukrainische Metropole auf.
Zu meiner Überraschung erscheint mir Kiew viel weniger fremd als erwartet. An jeder Ecke gibt es guten und vor allem günstigen Kaffee, und fast jeder hier spricht mindestens alltagsfähiges Englisch. Bei einer Straßenhändlerin shoppe ich ein paar Souvenirs (Klopapierrollen mit Putins Konterfei) und bekomme als Dank für mein schlampig ausgesprochenes „Slava ukraini“ sogar Rabatt und ein freundliches Lächeln geschenkt.
Acht Raketen werden abgefangen, zwei schlagen wohl am Rande der Stadt ein
In den folgenden Tagen lerne ich, dass „Kiew“ die eingedeutschte, russische Schreibweise ist, dass sich aus dem historischen Kyiv nahezu alles russisch-sowjetische entwickelte (weshalb die Stadt für den Ultranationalisten Wladimir Putin auch so bedeutungsvoll ist) und wie man den Fluss „Dnipro“ richtig ausspricht. Das Allerwichtigste: Trotz Krieg habe ich überall eine stabile Internetverbindung – selbst in den Tiefen der U-Bahn. Vielleicht kann Deutschland von der Ukraine ja noch was lernen.




