56 Stunden auf der Flucht

Eine 95-Jährige und ihre Tochter flüchteten aus der Ukraine nach Berlin

Am Zentralen Omnibusbahnhof werden sie und viele andere Flüchtlinge vom Malteser Hilfsdienst und anderen Freiwilligen versorgt. Es werden noch Fahrer gesucht.

Helfer des Malteser Hilfsdienstes und andere Ehrenamtliche  unterstützen die ukrainischen Flüchtlinge nach der Ankunft am ZOB. Jewgenia Viktorowna (61, l.) ist mit ihrer 95-jährigen Mutter Maria Groschewaja aus Charkiw geflohen. Sie werden jetzt untergebracht.
Helfer des Malteser Hilfsdienstes und andere Ehrenamtliche unterstützen die ukrainischen Flüchtlinge nach der Ankunft am ZOB. Jewgenia Viktorowna (61, l.) ist mit ihrer 95-jährigen Mutter Maria Groschewaja aus Charkiw geflohen. Sie werden jetzt untergebracht.Sabine Gudath

Maria Groschewaja hat schon den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie ist 95 Jahre alt und wohnte mit ihrer 61-jährigen Tochter Jewgenia Viktorowna zusammen im vierten Stock eines Mietshauses in Charkiw. Bis die Flugzeuge kamen und die Bomben. Als beide an diesem Sonntagmorgen mit dem Bus am Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) in Berlin-Charlottenburg ankommen, haben sie nach eigener Aussage 56 Stunden Flucht hinter sich.

Die 95-Jährige und ihre Tochter bekommen etwas zu trinken und Frühstück. Die alte Frau ist so erschöpft, dass sie auf einem der Feldbetten einschläft, das in einem der vier beheizten Zelte steht, die vom Malteser Hilfsdienst aufgebaut wurden. Seit Donnerstag unterstützen die Malteser am ZOB die ehrenamtlichen Helfer, die sich seit Tagen um die ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine kümmern. Die Malteser sind pro Schicht mit sechs Sanitätern und weiteren Koordinatoren da. Sie haben ein Sanitäts-, ein Schlaf- und ein Aufenthaltszelt aufgebaut und ein Zelt, in dem sie zusammen mit den anderen Ehrenamtlichen die Spenden sortieren. Hier stapeln sich Schuhe, Bekleidung, Wasser, Windeln, Hygieneartikel.

Helfer versorgen die ankommenden Flüchtlinge am Zentralen Omnibusbahnhof mit Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln.
Helfer versorgen die ankommenden Flüchtlinge am Zentralen Omnibusbahnhof mit Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln.Sabine Gudath

Unten in der Ankunftshalle herrscht Trubel. Die Ehrenamtlichen, die nicht von den Maltesern sind, tragen gelbe Westen mit ihren Namen und der Aufschrift, welche Sprache sie sprechen. Helfer gibt es inzwischen genug. „Aber Fahrer können wir immer gebrauchen“, sagt einer von ihnen. Fahrer, die die Geflüchteten, die hier registriert und mit Informationen und Telefonnummern versorgt werden, zu den Unterkünften bringen, die ihnen hier vermittelt werden. „Es ist gut, zu wissen, welche Sprache ein Fahrer spricht, und es ist hilfreich, wenn ein Fahrer mindestens vier Stunden Zeit hat. Gern können es auch größere Fahrzeuge sein“, sagt der Helfer.

Elftausend an einem Tag

Die meisten Flüchtlinge treffen mit Zügen am Hauptbahnhof ein. Laut Sozialverwaltung kamen allein am Sonnabend 11.000 in Berlin an, viele seien weitergereist. 720 seien vom Krisenstab und dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten untergebracht worden.

Überwiegend kommen die Busse aus Polen und der Ukraine in der Nacht. Rund 250 Menschen waren es in der Nacht zum Sonntag. Die Schlafplätze zum Ausruhen waren alle belegt. Die Helfer bieten Getränke und Essen an und medizinische Erstversorgung. In einer Nacht gab es einen Verdacht auf Beinvenen-Thrombose, bedingt durch die lange Fahrt, und einen auf TBC. Einige sind extrem erschöpft. Die 95-jährige Maria Groschewaja hat Zahnschmerzen. „Eine Option ist es, sie an die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung zu vermitteln“, sagt Malteser-Sprecherin Charlotte Rybak. Diese Praxis befindet sich beim Sankt-Gertrauden-Krankenhaus.

Eine ehrenamtliche Helferin kümmert sich um ein ukrainisches Kind, das mit seiner Mutter aus dem Bus gestiegen ist.
Eine ehrenamtliche Helferin kümmert sich um ein ukrainisches Kind, das mit seiner Mutter aus dem Bus gestiegen ist.Andreas Kopietz

Wieder fährt ein Bus aus Polen ein, diesmal aus Wrocław. Frauen steigen aus und kleine Kinder. Nicht alle Helfer stürmen dorthin, sondern nur eine Handvoll. Es läuft von Tag zu Tag koordinierter. Und es geht darum, ein Ohr und einen Blick auf die Menschen zu haben, sagt Norbert Verse, Koordinator der Notfallseelsorge im Erzbistum Berlin. „Es gibt viele Traumatisierungen, weil Frauen und Kinder ihre Männer und Väter im Krieg zurückgelassen haben.“ Für viele sei es erst mal wichtig, Strom zu haben, um ihre Handys aufzuladen, um mit ihren Männern zu telefonieren. Verse ist angetan von der Hilfsbereitschaft der Menschen, die sich Gedanken machten. „Sie fragen: Was wird gebraucht? Wir fahren jetzt einkaufen!“

„Sie wollen alle vertreiben“

Zu den vielen Helfern, die nicht von den Maltesern sind, gehört Sergej. Von Beruf ist der 39-Jährige Tänzer und Fitnesstrainer. Er begleitet, dolmetscht, vermittelt medizinische Hilfe. Soeben brachte er einen großen blauen Sack gespendeter Plüschtiere. Er sagt, dass seine Mutter Russin sei und sein Vater Ukrainer.

Jetzt dolmetscht er für Jewgenia Viktorowna, die es mit ihrer schwerbehinderten Mutter bis hierher schaffte. Jewgenia war 40 Jahre lang Schaffnerin bei der Bahn. Ihre Mutter hatte früher in der Filmindustrie Kulissen bemalt. Sie sagt, sie hätten fast 500 Euro für die Flucht bezahlt. „Charkiw wurde ständig bombardiert, die Stadt ist völlig zerstört“, sagt sie. „Sie wollen alle vertreiben. Wir kamen nur mit Verspätung raus, wegen der Bomben.“ Von Charkiw nach Lwiw hätten sie beide 18 Stunden gebraucht, von Lwiw bis zur Grenze noch einmal 18 Stunden. Sie sagt, dass sie einen Sohn habe. Dieser hätte eigentlich zum Zwecke der Betreuung mit ausreisen dürfen. Doch er habe die falschen Dokumente gehabt und sei nicht rausgelassen worden. Das alles erzählt Jewgenia Viktorowna in nüchtern-freundlichem Ton. Sie ist im Funktionsmodus. Wahrscheinlich wird die Ohnmacht erst mit der Ruhe kommen.

Der Malteser Hilfsdienst unterstützt die ukrainischen Flüchtlinge nach der Ankunft am ZOB: Bettina Nerlich, Viktoria Rachner und Valentin Otto im Sanitätszelt.
Der Malteser Hilfsdienst unterstützt die ukrainischen Flüchtlinge nach der Ankunft am ZOB: Bettina Nerlich, Viktoria Rachner und Valentin Otto im Sanitätszelt.Sabine Gudath

Die 61-Jährige bekam inzwischen eine neue Steppjacke. Sie hatte erst eine Jacke mit einem russischen Markenlogo, die sie hastig für die Flucht übergezogen hatte. Das kam bei den Mitreisenden nicht gut an. Nebenan im Aufenthaltszelt reicht ein Helfer zwei kleinen Kindern Buntstifte und Malschablonen. Überhaupt – die Kinder, die aus ihrem Umfeld herausgerissen wurden. Sie sind blass und müde. „Es ist mitunter schwer zu ertragen“, sagt Susanne Schattschneider, Referentin der Integrationsdienste bei den Berliner Maltesern. „Wir müssen uns deshalb auch um die Ehrenamtlichen kümmern.“

Susanne Schattschneider hat noch etwas anderes vollbracht: Fürs Erste konnte sie über ihr Netzwerk eine barrierefreie Wohnung für Maria Groschewaja und ihre Tochter sowie einen Fahrer dorthin vermitteln. Die 95-Jährige ist inzwischen erwacht. Mehrere Männer setzen sie in einen Rollstuhl. Sie und Jewgenia Viktorowna sind vorerst untergebracht.