Tourismus

Geflüchtete als Tourguides: Was hat Berlin mit den Taliban zu tun?

Seit 2015 erzählen Menschen mit Fluchterfahrung ihre Geschichten anhand historischer Orte in Berlin. Eine neue Tour zeigt die Stadt durch die Augen eines Afghanen.

Bei Refugee Voices Tours sind die Tourleiter Geflüchtete. Hier teilt der afghanische Student Ibrar Hossein Mirzai mit, was die Berliner Geschichte auch über das Schicksal seines Landes erzählt.
Bei Refugee Voices Tours sind die Tourleiter Geflüchtete. Hier teilt der afghanische Student Ibrar Hossein Mirzai mit, was die Berliner Geschichte auch über das Schicksal seines Landes erzählt.Gerd Engelsmann

Die meisten Reiseführer am Pariser Platz haben folgende Ziele: Reichstag, Checkpoint Charlie, Fernsehturm. Der Reiseführer Ibrar Hossein Mirzai steht auch vor dem Brandenburger Tor, aber hat eine andere Route im Kopf. Vor dem Brandenburger Tor wartet er auf seine Reisegruppe, der er heute von Berlin erzählen wird – genauer: von einem Berlin aus der Sicht eines afghanischen Geflüchteten.

Es ist Sonntag, und der 22-Jährige leitet seine erste öffentliche Führung, „Afghanistan: Between occupation and oppression“ (Zwischen Besatzung und Unterdrückung). Die Tour, die auf Englisch durchgeführt wird, ist das neueste Angebot des Tourveranstalters Refugee Voices Tours (RVT), bei der alle Reiseführer ihre eigene Fluchtgeschichte in die Tour mit einbringen. Die Tourguides wollen durch ihre Geschichten einen Zugang zu Europas eigener Kriegs- und Migrationsgeschichte schaffen. Schon etwas länger läuft die Tour „Why we're here“ (Warum wir hier sind), seit 2015 führen Syrer auf die Spuren des syrischen Bürgerkriegs in Berlin.

Fluchtgeschichten waren vor 2015 „komplett verloren gegangen“

Ibrar wird heute von einem syrischen Reiseführer, Nebras O., begleitet. Der gehört seit 2015 zum RVT-Team und war selbst 2013 aus Damaskus geflohen. Er will seinen Nachnamen nicht nennen, sein Bruder lebt noch dort, und er will ihn nicht gefährden. Die Ankunft einer Million syrischer Geflüchteter in Deutschland 2015 habe Interesse für das Thema Fluchtgeschichten geweckt, sagt Nebras. „Vorher waren diese Geschichten seit der Räumung der Okkupation am Oranienplatz 2014 komplett verloren gegangen.“

Solche Geschichten zu erzählen, ist auch eine wichtige Motivation für Ibrar. „Im August letzten Jahres stand die Machtübernahme durch die Taliban auf jeder Titelseite“, sagt er. Aber vor einem Monat seien 1000 Menschen bei einem Erdbeben gestorben, und man habe fast nichts darüber gesehen. „Das macht mir Sorgen.“ Ibrar wuchs in Pakistan auf, seine Eltern waren in den 90er-Jahren vor den Taliban dorthin geflüchtet. Seine Tour ist kostenlos, er bietet sie so oft er kann neben seinem Studium am Bard College Berlin an – Teilnehmer können aber gerne ein Trinkgeld geben.

„Mr. Gorbachev, tear down this wall!“: Hätte Afghanistan so viel westliche Unterstützung bekommen, wie die BRD es hat, könnte sein Schicksal jetzt ganz anders aussehen, so Tourleiter Ibrar.
„Mr. Gorbachev, tear down this wall!“: Hätte Afghanistan so viel westliche Unterstützung bekommen, wie die BRD es hat, könnte sein Schicksal jetzt ganz anders aussehen, so Tourleiter Ibrar.Gerd Engelsmann

Erster Stopp auf Ibrars Tour ist eine Tafel auf der Straße des 17. Junis, die einen Hochdruck des US-Präsidenten Ronald Reagan und seine berühmten Worte „Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ zeigt. Dort erzählt er, wie sich die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg durch Entnazifizierung und wirtschaftliche Hilfe aus den USA zu einer liberalen Demokratie entwickeln konnte. Hingegen bekam Afghanistan nach dem Ende des sowjetischen Krieges 1989 als auch im August 2021 „buchstäblich keine Unterstützung mehr“, so Ibrar. Weil nach dem Abzug der Sowjets kein afghanischer Staat etabliert wurde, habe es zu der bis heute anhaltenden Herrschaft der Taliban kommen können.

Zum typischen Publikum einer öffentlichen Tour von RVT gehört eine bunte Mischung aus Berlinern und Touristen sowie anderen Geflüchteten. Manchmal werden die Touren auch für Schulgruppen, ausländische Politiker und Berliner NGOs organisiert. Im Vergleich dazu ist die Gruppe für Ibrars erste öffentliche Führung etwas klein: drei Teilnehmer. Neben der Österreicherin Iris Thalhammer, die früher auch bei der RTV-Tour in Kopenhagen mitgemacht hat, sind dies der 36-jährige Mohammadullah Aryen und 24-jährige Muhammad Imran. Beide sind nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nach dem Abzug amerikanischer Truppen im August 2021 nach Berlin geflüchtet.

Die Tour führt an verschiedene Orte in Berlin: Vor dem Denkmal für die Ermordeten Juden Europas erzählt Ibrar über die Verfolgung von Minderheiten, vor dem Georg-Elser-Denkmal über Geschichten von Aufstand, und vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (dem früheren Sitz des Reichspropagandaministeriums) spricht er von der Rolle der Propaganda sowohl in der NS-Diktatur als auch in Afghanistan unter den Taliban.

„Wir junge Afghanen wollen nicht mehr unter Tyrannei leben“

Es sind Geschichten, die Mohammadullah Aryen und Muhammad Imran aus erster Hand erlebt haben. „Nach 20 Jahren Krieg wollen wir junge Afghanen nicht mehr unter Tyrannei leben“, so Muhammad. „Wir werden die Taliban mit einem Stift bekämpfen statt mit Waffen.“ Iris Thalhammer glaubt, dass solche persönlichen Sichtweisen die Geschichten Afghanistans und Berlins ihr näherbringen konnten. „Man merkt, wie komplex diese Geschichten eigentlich sind, wenn eine Person vor dir steht und von ihren persönlichen Erfahrungen damit erzählt“, sagt sie.

Ibrar freut sich, dass seine Tour so angekommen ist: Es sei ja das Ziel gewesen, eine Verbindung zu Geschichten zu verschaffen, die für ganz viele Menschen nur auf dem Handybildschirm existieren. Über den Sommer wird er seine Tour alle zwei Wochen öffentlich anbieten. Nebras O. will außerdem das Programm erweitern, zum Beispiel mit Geflüchteten aus der Ukraine oder weiblichen Geflüchteten, die vielleicht ganz andere Aspekte in eine solche Führung einbauen.

Am Potsdamer Platz endet die Tour. Muhammad bestaunt die glänzenden Hochhäuser: „Das ist alles so schön hier“, sagt er. Iris erzählt ihm, wie diese Gegend vor 30 Jahren völlig anders aussah, wie das ganze Gebiet bis zum Mauerfall Teil des Todesstreifens war. Muhammad schaut sich um, als ob er kaum glauben kann, was er da hört. „Irgendwo ist es immer dunkel“, sagt er, fast zu sich selbst. „Deutschland hatte seine dunklen Tage, jetzt erleben wir unsere, hoffentlich wird es eines Tages alles wieder hell.“

Mehr Infos über die kostenlose Tours und Workshops von Refugee Voices Tours sind auf der Website sowie der Facebook-Seite des Veranstalters erhältlich. Auf der Website kann man auch eine private Tour buchen.