Folge der Inflation

Kinderarmut in Berlin: „Bald werden die ersten Familien hungern müssen“

Seit 27 Jahren kümmert sich die Hilfsorganisation Arche in Berlin um Familien in Not. In diesem Jahr sei die Lage so schlimm wie nie zu vor.

Lebensmittellager der Arche: Koch Steffen Michaelis könnten bald die Zutaten ausgehen.
Lebensmittellager der Arche: Koch Steffen Michaelis könnten bald die Zutaten ausgehen.Gerd Engelsmann

Eine Mutter sitzt mit ihrer siebenjährigen Tochter im Speisesaal der Arche in Berlin-Hellersdorf. Sie hat eine Portion Pfannkuchen mit Apfelkompott auf ihrem Teller. Sie sagt, sie komme fünfmal pro Woche zum Essen hierher. Die 46-Jährige will anonym bleiben. Auch Eltern dürfen sich in der Arche eine warme Mahlzeit abholen, wenn ihnen das Geld zum Einkaufen fehlt. Die Hellersdorfer Mutter ist Hartz-IV-Empfängerin und alleinerziehend. Sie sorgt sich in diesen Zeiten noch mehr um ihre Zukunft – und vor allem um die ihres Kindes. „Ich habe Angst, dass wir in Deutschland bald frieren und hungern müssen“, sagt sie.

Die Mitarbeiter des Christlichen Kinder- und Jugendwerks Die Arche schlagen Alarm. Sie sind wegen der steigenden Lebensmittelpreise an die Belastungsgrenze gekommen. Erstmals sorgt sich Arche-Vorstand Bernd Siggelkow seit der Gründung vor 27 Jahren um die weitere Versorgung seiner Schützlinge. 4500 Kinder besuchen im Schnitt eine der 30 Hilfseinrichtungen in Deutschland. In Berlin-Hellersdorf werden bis zu 600 Mahlzeiten am Tag an bedürftige Kinder verteilt.

Bernd Siggelkow, Vorstand der Arche, blickt sorgenvoll in die nächsten Wochen
Bernd Siggelkow, Vorstand der Arche, blickt sorgenvoll in die nächsten WochenGerd Engelsmann

Die Befürchtungen der Hellersdorfer Mutter sind nach Einschätzung von Arche-Sprecher Wolfgang Büscher gar nicht so abwegig. „Wir kommen in eine Situation, dass die ersten Familien hungern werden in naher Zeit“, glaubt er. Schon zu Beginn des Jahres habe die Arche 1500 Spender verloren. „Der Mittelstand ist selbst am Limit und muss eigene Reserven bilden, um zu überleben“, erklärt Büscher. Doch ohne Spender wird es schwierig für die Hilfseinrichtung, denn der Vorstand rechne mit bis zu 1,5 Millionen Mehrkosten allein für dieses Jahr.

Die Arche hat gerade eine Krisensitzung mit allen Regionalleitern in Deutschland einberufen, um gemeinsam zu schauen, wo sie einsparen können. „Wir müssen uns dringend ein Polster anschaffen“, so Büscher. Ausgerechnet jetzt, wenn immer mehr Mütter ihre Kinder zum Essen in die Einrichtung schicken, weil sie sie zu Hause nicht mehr versorgen können, weil sie mit dem Geld nicht mehr klarkommen.

Ukraine-Hilfe hat ihnen das Genick gebrochen

Ihre Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen, hat die Mitarbeiter zum ersten Mal an ihre Grenzen gebracht. Bis vor Kurzem hat die Arche Hellersdorf auch die geflüchteten Mütter mit ihren Kindern unterstützt, weil der Bezirk sie um Mithilfe gebeten hatte. Doch das Hilfsangebot mussten sie nun schweren Herzens einstellen, sagt Büscher. Die Lebensmittel und Hygieneartikel im Wert von 2000 Euro pro Tag, die sie an die Geflüchteten verschenkt hätten, seien nicht mehr zu stemmen gewesen. „Es hat uns das Genick gebrochen“, erklärt der Arche-Sprecher. Aber es sei auch sehr schmerzhaft gewesen, die Familien allein zu lassen. Zu vielen von ihnen habe man eine Beziehung aufgebaut.

Sein Chef und Gründer der Arche, Bernd Siggelkow, verfolge seit Anfang an einen wichtigen Vorsatz: niemanden in Not abweisen zu müssen und jedes Kind sattzubekommen. Doch demnächst könnte dieser Vorsatz ins Wanken geraten. Während des Lockdowns und der behördlich angeordneten Schließung der Einrichtung versuchten sie, den Kontakt zu den Kindern aufrechtzuerhalten, und brachten ihnen und ihren Familien Lebensmittel bis an die Haustür.

Schon die Corona-Pandemie habe ihm und seinem Team viel abverlangt, sagt er. Der sonst so optimistische und fröhliche Pastor wirkt auf einmal sehr erschöpft. „Corona, Krieg, Preissteigerung. Was kommt als Nächstes?“, fragt sich Siggelkow. Die Menschen seien müde geworden von den vielen Krisen. So wie er selbst. „Ich fühle mich gerade so ohnmächtig von diesem System.“

In den Sommerferien ist es am Standort Hellersdorf etwas ruhiger. Die meisten Kinder sind mit ihren Erzieher:innen auf Ferienfreizeiten unterwegs. Ein paar Kleinkinder toben über den Flur. Sie sind neugierig auf jeden Besuch im Haus und sehr anhänglich. Ein Junge nimmt immer wieder die Hand der Reporterin. Viele von ihnen haben keine stabilen Bindungen in ihren Elternhäusern erfahren und suchen woanders nach Zuwendung und Liebe. „Ich muss sie immer wieder korrigieren, wenn sie Papa statt Andi zu mir sagen, und ihnen erklären, dass ich nicht ihr Vater bin“, sagt Andreas Sic. Er ist seit 14 Jahren als Erzieher in der Arche angestellt und arbeitet im Kleinkinderbereich.

600 Mittagessen pro Tag am Standort Hellersdorf

Auch für den Arche-Koch Steffen Michaelis wird das Zubereiten der Mahlzeiten bei den gestiegenen Lebensmittelpreisen zunehmend zu einer Herausforderung. In Spitzenzeiten muss er in der Hellersdorfer Kantine bis zu 600 Mittagessen planen. Wenn Steffen Michaelis Nudeln kocht, benötigt er eine ganze Kiste davon mit 24 Packungen von 500 Gramm. Bis vor Kurzem war die Menge noch größer, als er auch noch zusätzlich für die Mütter und Kinder aus der Ukraine gekocht hat. „Wir legen großen Wert darauf, dass es zu jeder Mahlzeit frisches Obst oder Gemüse gibt und keine Tiefkühlkost“, erklärt er. Natürlich gebe es zwischendurch auch mal Pizza oder Pommes, da die Kinder das nun mal sehr gern mögen.

„Wenn es die Arche nicht mehr geben würde, würde es vielen Kindern in vielen Großstädten wesentlich schlechter gehen“, befürchtet Arche-Mitarbeiter Wolfgang Büscher. Er befürchtet wie Bernd Siggelkow, dass die Kinderarmut sich mit der Inflation dramatisch verstärkt.

Sie fordern endlich ein Eingreifen aus der Politik. Eine Kindergrundsicherung von 600 Euro. Die Hälfte solle direkt auf das Konto der Kinder fließen und die andere Hälfte ins Bildungssystem. Außerdem sollten gesunde Lebensmittel von der Steuer befreit werden, findet Bernd Siggelkow. Der Hartz-IV-Satz für Kinder, die älter als 16 Jahre sind, liegt derzeit bei 3,50 Euro. Bei den Jüngeren sind es 2,95 Euro. „Ich bin entsetzt“, sagt Siggelkow. „Es kann nicht sein, dass sich diese Kinder nicht mehr gesund ernähren können.“