Wenn Fabian Kiebel, Emma Matanić und Lena Kinder über die Schule sprechen, merkt man ihnen die Unzufriedenheit an. Sie wirken, als ob sie hilflos einem sehr komplizierten System gegenüberstehen. Nur einer von ihnen hat es gerade hinter sich, der 18-jährige Fabian ist Abiturient des Jahrgangs 2022, er sieht sich aber noch immer als Schüler, die meisten seiner Freunde sind es noch. Im Rückblick bemerkt er: „Ich hatte Glück.“
In Berlin geht heute das neue Schuljahr los. Dazu gehören wie jedes Jahr Tausende Einschulungen am Sonnabend und Wechsel in weiterführende Schularten. In diesem Schuljahr gibt es so viele Schüler wie noch nie: 382.290 sind es, davon 37.050 Erstklässler. Doch nicht für alle ist das neue Schuljahr ein Anfang. Tausende von Schülern werden dieses Jahr in Berlin das Abitur anstreben und blicken nicht nur mit
Sorge nach vorne, sondern auch zurück. Für viele war Corona ein Rückschlag.

Unter den Abiturienten macht sich eine gewisse Resignation breit. Das bedeutet aber nicht aufgeben. Lena Kinder, eine Schülerin der 12. Klasse aus Prenzlauer Berg, beantwortet auf die Frage, was sie sich vom kommenden Schuljahr wünsche, mit einem Lächeln: „Ich will nur überleben.“ Die 17-Jährige ist aktiv im Schülerrat ihrer Schule und bei der internationalen Schüler-Organisation BermUN, die das politische Interesse von jungen Menschen fördern solll. „Mich stört, dass wir nicht selbst etwas mehr mitbestimmen können“, sagt sie. Gymnasium sei für sie vor allem mit Stress, aber wenig Einfluss verbunden. „Wie sollen wir so selbstständig werden?“
Im nationalen Vergleich schneidet Berlin schon länger schlecht ab. Die Hauptstadt hat bundesweit die höchsten Ausgaben pro Schüler und schneidet trotzdem bei Bildungsvergleichen immer schlecht ab. Noch 2021 lag Berlin beim PISA-Ranking im Vergleich mit anderen Bundesländern weit hinten – nur Bremen war noch deutlich schlechter. Beim Bildungsmonitor von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft landet Berlin für das Jahr 2022 auf dem Platz 13 von 16.
Aber nicht nur die Bildungsergebnisse lassen zu wünschen übrig. Schon Wochen vor dem Schulbeginn wurde von Schimmel und Verfall in Schulgebäuden berichtet. Immerhin wurden in den vergangenen zwei Jahren rund 23.000 Luftfilter angeschafft, statistisch könnte in jedem Klassenraum einer stehen. Es gilt zumindest keine Maskenpflicht mehr, aber wer möchte, darf gern eine tragen.
Fabian Kiebels wechselte 2020 in die Oberstufe, da hatte die Pandemie gerade begonnen. Homeschooling stand plötzlich auf dem Stundenplan. Beim Lernen hat er viel mit sich selbst ausmachen müssen, den Unterricht, das Lernen für Prüfungen, auch die Freizeitaktivitäten liefen auf Sparflamme.
Empathie kann ich nur mit anderen Menschen erlernen
Vor allem die direkten sozialen Kontakte haben ihm gefehlt. „Empathie kann man nur durch Erfahrungen mit Menschen lernen“, sagt er. Noch mehr als sonst sei er in seiner Echokammer gefangen gewesen, habe kaum Menschen getroffen, die nicht seine Freunde waren.
Emma Matanić, ebenfalls in der 12. Klasse, dachte, sie werde in der Oberstufe mehr auf das Studium vorbereitet. „Das klingt jetzt nach einem Stereotyp“, sagt die 18-Jährige, „aber ich muss vieles lernen, das keinen Sinn mehr für mich macht.“ Natürlich weiß sie, dass viele Stoffe ihr ein „Denksystem“ vermitteln sollen, trotzdem fühlt sie sich manchmal, als ob sie in kurzer Zeit zu viel Wissen in sich aufnehmen muss.
60 neue Schulpsychologen für Berlin
Von sogenanntem Bulimie-Lernen ist häufig die Rede. Die Pandemie habe das eher noch verschärft. Die entstandenen Wissenslücken müssen eben jetzt in kurzer Zeit nachgeholt werden und so erhöht sich der Druck noch. Wenn sie an die Zeit des Lockdowns zurückdenkt, erinnert sie sich an die positiven Effekte: Emma Matanić habe sich selbst gut motivieren können. Lena Kinder wiederum hatte es schwerer: „Es hat meine mentale Gesundheit stark beeinflusst, das hat sich dann negativ auf meine Noten ausgewirkt.“
Die Schulbehörden haben darauf reagiert. Ab diesem Schuljahr sollen fast 60 neue Schulpsychologen an Berliner Schulen mit ihrer Arbeit beginnen. Bei über 270 weiterführenden Schulen in Berlin ist dies allerdings nicht ausreichend. Bereits vor der Pandemie waren laut Angaben der Krankenkasse DAK fast 50 Prozent aller Schüler von Stress belastet, Tendenz steigend. Ein Drittel dieser Jungen und Mädchen leidet demnach unter Symptomen wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Schlafproblemen.
Auch die Anzahl an Kindern und Jugendlichen, die zu Hause unter psychischer, physischer oder emotionaler Gewalt oder Vernachlässigung litten, ist in dieser Zeit drastisch gestiegen. Besonders diese Aspekte mentaler Belastung sowie der Ausblick auf eine Zukunft voll mit Krieg, Inflation und Klimawandel lässt viele Jugendliche die Hoffnung verlieren. Die Sorge um die globalen Probleme addieren sich nur zum Schulstress.
Auch bei den drei befragten Schülern kommen diese Themen immer wieder vor. Fabian Kiebel denkt, dass diese Pandemie noch lange nicht vorbei ist und dass es nicht die letzte ist, die er erleben wird. „Es ist seltsam, in solchen Zeiten aufzuwachsen“, sagt er. „Wie soll man da hoffnungsvoll nach vorne schauen?“
Für Kiebel geht es jetzt erst mal mit einem Bundesfreiwilligendienst weiter, danach will er Soziologie studieren. Ob in Berlin, steht noch nicht fest. Als Grund dafür nennt er wie zuvor einen dringend nötigen Perspektivenwechsel. Dass er studieren wird, steht, genauso wie Abitur zu machen, außer Frage: „Es gibt ja großen Druck, gerade in unserer Generation, es zu schaffen.“




