Berlin-Ich war im Kindergarten, als ich Deutsch zum ersten Mal hörte. Da war ich drei Jahre alt. Ich kann mich an die Zeit nicht im Detail erinnern, aber kann mir sehr gut vorstellen, wie ich mit meinen Freunden und Erzieherinnen kommuniziert haben muss, ohne ein Wort Deutsch zu können, weil meine dreijährige Nichte zurzeit genau dasselbe durchmacht wie ich damals.
Oft verständigt sie sich nonverbal, mit vielen Handbewegungen, manchmal mit einer sehr lustigen Mischung aus Türkisch, vereinzelten deutschen Begriffen – und englischen, wegen der vielen Kinderlieder, die sie so gern hört. Sie tritt an ihre Altersgenossen heran, winkt oder stupst sie leicht an, blickt ihnen tief in die Augen, sagt: „Komm!“ (oder „Come!“?) und spielt mit ihnen. Oft plappert sie weiter auf sie ein – und dabei entsteht eine mysteriöse Sprache, die keiner so richtig versteht.
Bei mir daheim wird nur Türkisch gesprochen. Das hat sich über all die Jahre nicht geändert. Meine beiden Geschwister und ich sind so aufgewachsen: Zuerst wird die türkische Sprache akzentfrei und fließend beherrscht, dann die deutsche. Das hat bei uns ganz gut geklappt, weshalb meine Schwester, die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, auch ihre Tochter so erziehen wollte und mit ihr ausschließlich Türkisch spricht – genauso ihr Mann. Das wird so weitergehen, selbst wenn meine Nichte anfängt, ganze deutsche Sätze zu formulieren. Drinnen Türkisch, draußen Deutsch. Das ist die Regel.
Meine Eltern haben sehr viel Wert drauf gelegt, dass ich Deutsch so perfekt beherrsche wie meine erste Muttersprache, ohne diese jemals zu verlernen. So sollte ich ausschließlich deutsche Freunde haben. Ich weiß noch, wie meine Mama mir als Kind sogar davon abriet, meine Freizeit mit Yasemin, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, zu verbringen.
In meiner Zeit am Gymnasium besuchte ich ein- bis zweimal in der Woche zusätzlich eine türkische Schule, wo ich lernte, die türkische Grammatik richtig anzuwenden. Auch Geschichte wurde unterrichtet. Am Ende des Jahres bekam ich ein Zeugnis der deutschen und eins der türkischen Schule überreicht. Jahrelang.
Ich werde oft gefragt, wie das geht, dass ich beide Sprachen gleichermaßen gut beherrsche, zwischen beiden hin- und herpendele, ohne mich selbst zu verwirren. Wenn ich müde bin, leiden meine Sprachen – sowohl die türkische als auch die deutsche – sehr darunter. Dann vergesse ich den richtigen Artikel von einem Wort, muss auf der Duden-Webseite nachschlagen. Oder ich mache andere grammatikalische Fehler, die manchmal so schräg und so lustig sind, dass ich selbst über sie lachen muss. Oder ich fange an zu lallen und zu stottern, wenn ich mit meiner Mama auf Türkisch telefoniere. Sie versteht kaum Deutsch. Je erschöpfter ich bin, desto heftiger wird meine Sprache beeinflusst.
In welcher Sprache ich träume, habe ich noch nicht vollends ergründet. Vor einigen Wochen träumte ich von meinem Vater, der mich per Facetime anrief und mir auf Türkisch sagte, dass ich mein Handy schief halte, er aber unbedingt mein Gesicht sehen wolle. An seine Wörter kann ich mich ganz klar erinnern. Welche Sprache in meinen anderen Träumen gesprochen wird, weiß ich nicht.




