Kolumne

Ist das Diskriminierung oder rede ich mir das nur ein?

In der Schule oder auf der Suche nach einer Ausbildung: Unsere Autorin hatte schon oft das Gefühl benachteiligt zu werden. Sie fragt sich: Ist sie das Problem?

Miray Caliskan
Miray CaliskanBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Berlin-Es gibt ein Gefühl, das mich ein Leben lang verfolgt. Ich kann es nicht mit Fakten untermauern, keine Beweise vorlegen. Aber es ist da und ich kann es nicht abschütteln.

Auf dem Gymnasium, in der achten Klasse, bin ich sitzengeblieben. Es war ein furchtbares Jahr – meine Familie erfuhr, dass meine Schwester, damals Anfang 20, an der Nervenerkrankung Multiple Sklerose erkrankt war. Ich verbrachte den Großteil meiner Schulferien – von Herbst bis Pfingsten – im Krankenhaus und Arztpraxen an ihrer Seite. Meine Klassenlehrerin wusste Bescheid, psychologische Betreuung gab es an meiner Schule keine. Meine Noten wurden immer schlechter und irgendwann zeichnete sich ab, dass ich das Schuljahr nicht packen würde. Nicht verwunderlich, und kein Weltuntergang.

Eines Tages nahm mich meine Lehrerin zur Seite und sagte mir, dass ich nicht die achte Klasse wiederholen, sondern auf eine Gesamtschule wechseln solle. Das Gymnasium wäre einfach nicht der richtige Weg für mich, es wäre zu hart. „Du machst einen Realschulabschluss, danach eine Ausbildung, zum Beispiel im Einzelhandel, und das reicht ja auch für dich – auch viel einfacher auf diesem Weg eine Familie zu gründen.“

Wie kam sie darauf, dass mein Ziel die Gründung einer Familie war? Wieso stärkte sie mir nicht den Rücken, sondern versuchte, mir einen vermeintlich leichteren Lebensweg einzureden? Sah sie in mir eine Türkin, die nicht viel erreichen wollte und konnte? Haben meine deutschen Mitschüler auch solche Empfehlungen bekommen? War das Diskriminierung oder rede ich mir das ein?

Diese Fragen stellte ich mir erst Jahre später. In jenem Moment glaubte ich meiner Lehrerin. Mein Vater schritt wie so oft ein, stritt mit meiner Klassenlehrerin und dem Schuldirektor und ließ mich die Klasse wiederholen. „Hör’ nicht auf sie“, sagte er. Ich verlor nicht mal ein Schuljahr, weil ich von G9 in G8 rutschte.

Das Gefühl, dass alle gegen mich sind, weil ich Miray Caliskan heiße und aus einer Einwandererfamilie komme, verfolgt mich noch heute manchmal. Ich fühle mich benachteiligt, weil ich solche negativen Erfahrungen unzählige Male machen musste. Ich suchte nach meinem Bachelor, den ich mit sehr guten Noten abgeschlossen hatte, ein ganzes Jahr nach einer Volontariatsstelle und musste in dieser Zeit mehr als 20 Absagen aus den unterschiedlichsten Redaktionen einstecken, noch bevor ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde. Eine Begründung gab es nie, ist ja auch nicht üblich. Aber die Absagen trafen mich in meinem Kern, ich weinte sehr viel, jobbte nebenbei, um die Zeit totzuschlagen, verstand die Welt nicht mehr und wieder redete ich mir ein, dass das Problem an mir liegen musste, nicht am System.

Natürlich haben es andere Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen auch schwer. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ich härter kämpfen muss als meine Mitmenschen aus deutschen Familien, um meine Ziele zu erreichen.

Ich bin mir sicher, dass mir nach diesem Text wieder einige unterstellen werden, die „Rassismuskeule zu schwingen“. Ich sollte als Frau aus einer Einwandererfamilie nicht so viel meckern, wird es wie so oft heißen. Dass ich es doch gut hätte, mich extrem glücklich schätzen müsste, als türkischstämmige Person in einem Land wie Deutschland leben zu dürfen.

Weitere Kolumnen von Miray Caliskan