Es gibt Orte in Berlin, denen ich mal eine große Zukunft vorausgesagt habe. Die Heidestraße gehört dazu. Vor vielen Jahren, als der Hauptbahnhof noch als Solitär in einer riesigen Buddelkasten-Brache hervorstach, dachte ich wirklich, die Gegend nördlich des Bahnhofs entwickle sich zum Meat Packing District der Stadt. Also jenem Schlachthofviertel in New York, in dem sich hippe Hotels, Delis, Ateliers und Boutiquen befinden.
Die Heidestraße war damals schon eine mehrspurige Fahrbahn, auf der täglich 40.000 Autos entlangrauschten. Doch drumherum war vor allem Kraterlandschaft. Es gab noch keinen Total-Turm, kaum Firmenzentralen und Wohnhäuser, noch keine Europacity mit Penthouse-Appartements.
Dafür einige internationale Galerien, den Tape Club in einer leerstehenden Papierfabrik, sowie ein, zwei Restaurants in Abbruchhäusern. Etwa das Bebe Rebozo, vielleicht erinnert sich jemand: ein unsanierter Laden, Vorhänge verdeckten seine Schmutzscheiben. Und das Konzept so puristisch wie ein McDonalds für Gourmets: Es gab lediglich Austern, Ceviche und Steaks.
Wie cool war diese Gegend damals. Wie traurig ist heute das Ergebnis mit seiner seelenlosen Einheitsarchitektur. Geblieben ist nur das Gefühl einer Geisterstadt. Hegte ich damals die Hoffnung, dass hier etwas aufregend Neues entstehen könnte, so nutze ich heute die verbaute Einöde hauptsächlich für den Transit in freundlichere Zonen.

Natürlich gibt es auch ein paar Ausnahmen. Richtig glücklich macht mich zum Beispiel die Existenz des Daily Warteg, ein zur festen Holzhütte umgebauter Foodtruck mit indonesisch-singapurischen Mittagsgerichten, der sich seit Juni 2021 tapfer behauptet. Schon der Anblick dieser selbstgebastelten Oase an der Ecke Heide-/ Döberitzer Straße fühlt sich an wie die Sichtung eines Wasserlochs bei einer Wüstenwanderung.
Das Essen der Mutter vermisst
Warteg ist eine Abkürzung aus den zwei Wörtern: „Warung“, was in Indonesien einen Kiosk oder kleinen Laden bezeichnet, und „Tegal“, der Name einer Stadt in West-Java. In den 1950er-Jahren zogen viele Arbeiter und ihre Familien nach Jakarta. Die Männer jobbten im Bau, die Frauen eröffneten Kioske und verkauften günstiges Essen an die Arbeiter. Die meisten dieser Leute stammten aus der Stadt Tegal, daher die Namensverschmelzung aus Warung und Tegal.
An diese Tradition eines Imbisses am Straßenrand, an dem man sich hinsetzen und eine billige Mahlzeit aus hausgemachten indonesischen Gerichten genießen kann, knüpft Inhaberin Gabriele Winata an.
Sie selbst ist Chemikerin, wuchs eine halbe Stunde außerhalb von Singapur auf und kam für den Master nach Berlin. Während des Studiums kochte sie viel für ihre neuen Berliner Freunde – auch weil sie selbst das Essen ihrer Mutter vermisste. Ihr Freundeskreis war begeistert von Speisen wie Woku-Huhn, gelbem Reis, Hühnerfleisch mit gesalzenen Eiern und dem indonesischen Sojasprossensalat Gado-Gado. Ermutigt vom Zuspruch baute Winata noch während der Pandemie ihr eigenes Gastro-Unternehmen auf.
Der Food Truck mit zwei wackeligen Biergartentischen davor ist die lässig-improvisierte Front. Gabriela Winata arbeitet gerade daran, ihre Gerichte auch über Big Player der Bringszene wie Lieferando zu verkaufen.
Die Fritteuse ist hier das essentielle Küchengerät
Tatsächlich ist authentisch indonesisches Essen sowie eine zeitgemäße Singapur-Küche in Berlin eine Marktlücke. Das merkt man auch, weil bei jedem Besuch Gäste aus Asien hier sitzen. Bei meinem letzten saß eine Gruppe junger Indonesierinnen und Indonesier draußen. Ich bestellte einfach das, was sie nahmen. Also so ziemlich alles auf der übersichtlichen Karte. Die meisten Gerichte sind mit Huhn zubereitet, bei einigen gibt es eine vegetarische Abwandlung mit Tempeh, ein traditionelles Fermentationsprodukt aus Indonesien, das durch die Beimpfung gekochter Sojabohnen mit verschiedenen Schimmelpilz-Arten gewonnen wird.
Gegessen wird von Einweggeschirr, was schade ist. Immerhin ist es aus Karton und mit einem Bananenblatt ausgelegt. Doch es wird Winatas Kochkunst eigentlich nicht gerecht.
Mit nur einer Hilfe in der engen Küche macht sie hier alles selbst. Die Ausgangsprodukte sind vom Großmarkt, die Handarbeit, mit der sie etwa Soßen wie Béchamel, Sambal und Erdnuss ansetzt, macht das wett. Die Fritteuse ist hier das essentielle Küchengerät, vor allem bei den Vorspeisen, schließlich handelt es sich um Streetfood.
Bestimmt großartig nach langer Nacht ist das extrem knusprige Tempeh Mendoan. Eingebacken in einen herzhaften Teig dippt man Tempeh und Lauchzwiebeln in eine sirupartige, süße Sojasauce namens Kecap Manis, die nach zimtigen Sternanis, Nelken und Koriander schmeckt. In Indonesien die beliebteste Würzsauce.
Auch die klassischen Satayspieße sind grandios, weil alle Geschmacksrichtungen zum Tragen kommen: Die Süße der dicken Erdnuss-Kokossauce, in der das gegrillte Huhn erst mariniert und dann so ummantelt gegrillt wurde. Der salzige Crunch der Hühnerhaut und Röstzwiebeln sowie Saures, was von knackiger Gurken-Karotten-Rohkost stammt.
Der Gado Gado Salat aus Sojasprossen, gebratenem Tempeh, gekochtem Ei, Kartoffeln und Erdnusssoße ist mir zu pappig, was an der üppigen Erdnusssoße liegt, von der ich inzwischen genug habe. Hier wünschte ich mir mehr frische Aromen – und Schärfe, wie ich sie bei meinem Favoriten, einem Gericht namens Grandma's Recipe Ayam Woku bekomme: Das in Zitronengras, Ingwer, Limettenblättern und allerlei Chilischoten zart gekochte Huhn wirkt wie ein Dampfbad. Nase und Poren - alles ist mit einem Mal frei. Aromatisch ist es eine Offenbarung, und den weißen Reis dazu bekommt Gabriele Winata wunderbar locker hin. Toll auch ihr Nasi Kuning, ein gelber Reis, der mit Tumeric und Kokosmilch gekocht wird.
Die Inhaberin hat viel vor. Sie will künftig für Events oder Büros kochen und sucht auch nach einem richtigen Restaurant, in dem mehr Gäste sitzen können. Ihre aufwendige Kochkunst hätte es verdient. Für die öde Gegend um den Hauptbahnhof allerdings wäre die Schließung des Daily Warteg ein herber Verlust.




