Am 26. März 1996 wird eine Frau in das Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg eingeliefert. Sie hat schwere Verletzungen an Kopf und Hals, die ihr mit einem Messer und einem Hammer zugefügt wurden. Die 29-Jährige arbeitet als Prostituierte auf dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße. Sie ist ansprechbar und erzählt, dass ein Freier über sie hergefallen sei, sie im Auto schwer verletzt habe. Anschließend sei der Mann mit ihr in seine Wohnung gefahren und dort erneut gewalttätig geworden. Nur eine Schnittverletzung, die er sich selbst zugefügt haben soll, verhinderte offenbar Schlimmeres.
Die Ärzte der Klinik alarmieren die Polizei. Die Frau kennt den Namen des Mannes, der sie so zugerichtet hat. Schließlich war sie in seiner Wohnung, weiß daher auch, wo er lebt. Was die Ermittler zu dieser Zeit noch nicht ahnen können: Mit ihrer Aussage bringt die Schwerverletzte die Ermittler auf die Spur eines Mörders.
Stefan S. ist seit drei Jahren Hautarzt am Klinikum Benjamin Franklin in Steglitz, ein hilfsbereiter Typ, der auch zu Patienten fürsorglich ist. Er ist in einem Akademikerhaushalt in Nordrhein-Westfalen groß geworden, lebt allein in Berlin. Am Steglitzer Klinikum hat er sich als Laserspezialist einen Namen gemacht. Kollegen schätzen den 36-Jährigen, sie nennen ihn Aristokrat – wegen seines unaufdringlichen Verhaltens und seiner eleganten Art, sich zu kleiden.
Drei Tage, nachdem die Mordermittler ins Urban-Krankenhaus gerufen wurden, wird der im Job so angesehene Stefan S. festgenommen. Gegen ihn wird Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten Totschlags an der 29-jährigen Prostituierten erlassen. Seine Kollegen sind erschüttert, können sich nicht vorstellen, dass die Vorwürfe gegen den groß gewachsene Mann zutreffen.
Doch damit nicht genug, bald schon gibt es weitere schwere Vorwürfe gegen den Hautarzt: Bei der Durchsuchung der in Schmargendorf gelegenen Wohnung des Mediziners fallen den Kriminalisten Beweismittel für ein weiteres Verbrechen in die Hände. Sie entdecken versteckte Polaroidfotos. Es sind Bilder, auf denen eine zunächst unbekannte junge Frau mit Bubikopf und Strähnchen zu sehen ist. Sie sitzt in einer Babybadewanne, ist mit einer Lederhose bekleidet. Andere Fotos zeigen eine Plastiktüte und einen Gürtel.
Die Haltung der Frau auf dem Foto wirke wie arrangiert, wird ein Gerichtsmediziner sagen. Hautverfärbungen am Körper deutet der Experte als Leichenflecke, grüne Verfärbungen am Bauch der Frau als Fäulnis. Der Rechtsmediziner und auch die Fahnder sind sich sicher, dass die Frau zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht mehr am Leben war.
Mehrere Fälle von Tötung
Doch wer ist die Tote? Wie starb sie? Und hat der Arzt womöglich noch weitere Verbrechen begangen? Die Frage ist für die Ermittler durchaus begründet. Der Straßenstrich in der Kurfürstenstraße ist ein gefährliches Pflaster, und die Berliner Polizei ermittelt zu dieser Zeit in mehreren Fällen von Tötungsdelikten an Prostituierten. Seit Juni 1994 wurden die Leichen von vier Frauen aufgefunden: Dana F., Agnieszka K., Monika L. und Sabrina G.
Antwort auf die Frage nach der Identität der Frau auf dem Foto erhalten die Fahnder, als sie auf eine Vermisstenanzeige stoßen. Seit drei Wochen ist Susann T.* verschwunden. Die 18-Jährige hatte gerade die Zusage für einen Ausbildungsplatz in der Hunderettungsstelle erhalten, sie lebte in einer kleinen Wohnung und verdiente sich gelegentlich auf dem Straßenstrich an der Kurfürstenstraße etwas dazu.
Seit Sonnabend, dem 2. März, fehlt von ihr jede Spur. Die Fahnder legen Verwandten und Freunden die Fotos vor, die sie in der Wohnung von Stefan S. gefunden haben. Auf den Aufnahmen erkennen sie Susann T. wieder.

Am 17. Mai wird die Öffentlichkeit von der Verhaftung des Mediziners unterrichtet. In einem Fax, das die Justizpressestelle Moabit an die Redaktionen der Stadt verschickt, heißt es: Neben dem Tatverdacht des versuchten Totschlags an der 29-jährigen Prostituierten werde Stefan S. auch beschuldigt, „eine weitere junge Prostituierte vom Straßenstrich in der Kurfürstenstraße in seiner Wohnung – mutmaßlich in der Nacht vom 2. zum 3. März 1996 – ermordet zu haben.“ Deswegen habe das „Amtsgericht Tiergarten auf Antrag der Staatsanwaltschaft am 30. April 1996 Haftbefehl wegen Mordes erlassen.“
Doch das Wichtigste bei den Mordermittlungen fehlt: die Leiche von Susann T. Und der promovierte Hautarzt streitet alle Vorwürfe ab. Im Fall der schwerverletzten Prostituierten spricht er von Notwehr. Die Frau habe ihn mit einem Messer angegriffen, behauptet Stefan S. Und er gibt an, eine Susann T. nicht zu kennen. Bei der Frau auf dem Fotos handele es sich um eine Maike, die er am nächsten Tat lebend am Bahnhof Zoo abgesetzt haben will. Doch die Kriminalisten glauben ihm nicht.
Bei den Recherchen der Polizei kommt zudem zutage, dass Stefan S. noch zwei weitere Frauen schwer verletzt hat. Im Herbst 1988 soll er in Frankfurt am Main einer Prostituierten in einem Auto von hinten ein Seil um den Hals geschlungen und versucht haben, sie zu töten. Die Ermittlungen waren zunächst eingestellt, mit Bekanntwerden der Vorwürfe gegen den Arzt jedoch wieder aufgenommen worden.
Und Anfang Februar 1996 soll der Mediziner eine 16-Jährige von der Kurfürstenstraße mitgenommen und ihr in seiner Wohnung einen Gürtel um den Hals gelegt und zugezogen haben. Nur wegen der Gegenwehr und der lauten Schreie der Jugendlichen habe Stefan S. von seinem Opfer abgelassen, sind sich die Ermittler sicher. Die 16-Jährige hatte sich nach der Tat gescheut, zur Polizei zu gehen. Erst, als sie von den Ermittlungen gegen den Hautarzt erfuhr, offenbarte sie sich den Fahndern.
Im August 1996 erhebt die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen Stefan S. – wegen Mordversuchs an drei Frauen und Mordes an Susann T. Sie teilt auch mit, wie Stefan S. die junge Frau ihrer Meinung nach getötet hat. „Nach dem Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen soll der Angeklagte dem Opfer eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und es sodann von hinten mit einem Ledergürtel erdrosselt haben“, heißt es in der Mitteilung der Justizpressestelle. Anschließend soll Stefan S. den Leichnam in eine Babybadewanne gesetzt und fotografiert haben.
Als der Prozess gegen Stefan S. im November 1996 vor einer Schwurgerichtskammer des Berliner Landgerichts beginnt, ist der Andrang groß. Wohl auch, weil viele Dr. Mord sehen wollen. So wird der Hautarzt in den Medien genannt. Er streitet zunächst die Vorwürfe ab, räumt lediglich ein, einmal wöchentlich zu Frauen vom Straßenstrich in der Kurfürstenstraße gegangen zu sein. Auch seine Vorliebe für Lederhosen gibt er zu.
Die Frauen, die die Angriffe des Angeklagten überlebt haben, treten im Prozess als Zeuginnen auf und belasten den Arzt schwer. Ebenso wie ein Fasergutachten. Darin werden rot-violette Polyacrylfasern analysiert, die Kriminaltechniker in der Wohnung des Hautarztes, aber auch in der Wohnung von Susann T. und zu Hause bei ihrer Mutter gefunden haben. Sie stimmen überein und stammen von einem Pullover der verschwundenen Frau. Sie beweisen, dass sich die 18-Jährige zumindest in der Wohnung von Stefan S. aufgehalten hat.

Das Fasergutachten ist ein Mosaiksteinchen in dem Indizien-Mordprozess. Mehr nicht. Doch dann entschließt sich Stefan S. zu reden. Er spricht drei Stunden. Auffallend emotionslos schildert er den Tod von Susann T. Ein Unfall sei es gewesen, beteuert er. Der Angeklagte gibt an, die Prostituierte mit in seine Wohnung genommen zu haben. Dort sei es in der Nacht zum 3. März 1996 zu Rollenspielen gekommen, die auf „ihrem Mist gewachsen“ und ins Sadistisch-Masochistische ausgeufert seien. Susann T. habe sich dabei auch drosseln und mit einem Gürtel um den Hals wie ein Hund durch die Wohnung führen lassen.
Der Angeklagte schildert, dass ihm selbst schlecht gewesen sei, weil er Tabletten eingenommen habe. Nach einem längeren Aufenthalt im Bad sei die Frau tot gewesen. Wegen seiner Sexpraktiken habe er sich nicht getraut, die Polizei zu rufen. Er habe die Leiche in die Babybadewanne gesetzt und sie so fotografiert, als würde sie noch leben. Die Tote zersägte er schließlich und brachte sie nach eigenen Worten in einer Sporttasche nach Spandau – wo er die Leichenteile in Müllcontainer warf.
Auch die Gewalttaten gegen die drei Frauen, die seine Angriffe überlebten, gibt er zu. Er habe aus Frust und Wut gehandelt. Und im Affekt. Weil ihn die Frauen wegen seiner Potenzschwierigkeiten gehänselt hätten. Die Gewaltausbrüche schiebt Stefan S. auf Medikamente, mit denen er seine Impotenz bekämpfen wollte. Er beteuert, nie vorgehabt zu haben, jemanden zu töten.
Der psychiatrische Gutachter hält den Angeklagten für einen schwer gestörten Menschen mit einem Hang zum Sadismus, der gemeingefährlich ist. Er spricht sich im Prozess für die Einweisung des Angeklagten in eine Klinik aus. Doch da will Stefan S. keinesfalls hin. Er wolle nicht als Irrer enden, sagt er im Prozess. In seinem letzten Wort bittet er die Kammer, freigesprochen zu werden. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, die für ihn eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert hat, nennt er absurd und falsch.
Doch am Ende folgen die Richter den Argumenten der Anklage. Ende August 1997 verurteilen sie den Hautarzt wegen heimtückischen Mordes an der 18-jährigen Susann T. und wegen mehrfachen Mordversuchs zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Vorsitzende Richterin nennt S. einen psychisch gestörten Mann. Er habe Frauen, nachdem er sexuell versagt habe, aus tiefen Hass attackiert und dabei Macht- und Rachegefühle ausleben wollen, sagt sie. Der Hautarzt sei zeitlebens unfähig gewesen, in einer Beziehung zu leben. Deswegen habe er den Straßenstrich aufgesucht und auch einkalkuliert zu töten.
Leiche von Susann T. ist bis heute verschwunden
Die Darstellung des Angeklagten, der Tod der jungen Frau sei ein Unfall gewesen, nannte die Richterin völlig unglaubwürdig und makaber. Stefan S. habe keinerlei Entsetzen oder Reue gezeigt, sondern sich noch Stunden nach der Erdrosselung seines Opfers ausgiebig mit der Toten beschäftigt.
Stefan S. soll laut Urteil zunächst sieben Jahre im Gefängnis verbüßen, bevor der unter einer schizoiden Persönlichkeitsstörung leidende Angeklagte in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Das Gericht begründet dies damit, dass der Mediziner noch immer nicht bereit sei, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Er solle im Gefängnis zu der Einsicht gelangen, Täter zu sein und nicht Opfer. Stefan S. nimmt das Urteil so wütend auf, dass ihn sein Verteidiger beruhigen muss.
Der Hautarzt geht gegen die Entscheidung in Revision. So bleibt Stefan S. zumindest das Gefängnis erspart. Denn im September 1998 entscheidet der Bundesgerichtshof, dass der Mediziner sofort in eine Klinik für psychisch kranke Straftäter eingewiesen wird. Sein Anwalt sagt damals der Berliner Zeitung: Stefan S. sei „in hohem Maße therapiewillig“.
Die Leiche von Susann T. ist bis heute verschwunden.



