Dilan S. erzählt sehr sachlich und ruhig, wie sie in der Straßenbahn als Drecksausländerin bezeichnet wurde. Sie fragt die Vorsitzende Richterin, ob sie auch die anderen Schimpfwörter, mit denen die Angeklagten sie beleidigt hätten, einfach so sagen dürfe. Die Richterin nickt. Also gibt die 18-jährige Abiturientin mit fester Stimme auch die vulgären Ausdrücke wieder, mit denen sie bedacht worden sein soll.
Die türkischstämmige junge Frau erzählt, dass sie an der Haltestelle Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg ausgestiegen sei, um den Pöbeleien zu entgehen. Und dass die Angeklagten ihr gefolgt seien. Erst als Dilan S. schildert, wie sie an der Haltestelle regelrecht umzingelt, beschimpft, geschlagen und getreten worden sei, verliert sie die Fassung und weint. Dann sagt sie unter Tränen: „Ich wollte weggehen, ich hatte Angst.“ Angst, dort nicht mehr wegzukommen.
Dilan S. ist in diesem Verfahren vor dem Amtsgericht Tiergarten nicht nur Zeugin, sie ist auch Nebenklägerin. Angeklagt sind drei Frauen und drei Männer im Alter von 25 bis 55 Jahren. Sie müssen sich wegen Beleidigung, Bedrohung, gefährlicher Körperverletzung beziehungsweise Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung verantworten.
Am 5. Februar vorigen Jahres hatten sie offenbar mit sehr viel Alkohol den 33. Geburtstag von Jennifer G. gefeiert, die mit auf der Anklagebank sitzt. Nach Angaben von Staatsanwalt Sebastian Schwarz sollen die Angeklagten Dilan S. in der Straßenbahn der Linie 4 rassistisch beleidigt und nach dem Verlassen der Tram angegriffen und verletzt haben. Sie waren nach der Tat in einer nahe gelegenen Kneipe festgenommen worden, die als Treffpunkt für Rechtsextremisten gilt.
Ein Video aus dem Krankenhaus
Ein Video, das Dilan S. nach dem Angriff aus dem Krankenhaus gepostet hatte, sorgte über die Berliner Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen. In dem Film hatte die damals 17-Jährige unter Tränen erzählt, dass ihr niemand geholfen habe.
Mit dem Video habe sie eines klarstellen wollen, sagt Dilan S. nun vor Gericht. Es sei kein Streit um eine fehlende Maske gewesen, sondern Rassismus. Sie sei geschlagen worden, weil die Angeklagten in ihr eine Ausländerin gesehen hätten.
Mit dem Video stellte die junge Frau auch eine Falschmeldung der Polizei richtig. Die Behörde hatte nach dem abendlichen Übergriff in einer Mitteilung fälschlicherweise geschrieben, die Jugendliche habe in der Straßenbahn keinen Mund-Nasen-Schutz getragen. Deswegen sei es zum Streit mit sechs Erwachsenen und womöglich zu rassistischen Beleidigungen gekommen. Die Medien übernahmen die Meldung ungeprüft, auch die Berliner Zeitung.
Nachdem Dilan S. das Video veröffentlich hatte, räumte die Polizei ihren Fehler ein. Denn: Dilan S. hatte in der Straßenbahn sehr wohl eine Maske getragen, die Erwachsenen, mit denen sie in Streit geriet und die von einer Feier gekommen waren, hingegen nicht.
Dilan S. erinnert sich, wie sie an jenem Abend an der Hufelandstraße kurz nach 20 Uhr in die Straßenbahn gestiegen sei. Eine Haltestelle später seien dort, wo sie gestanden habe, drei der Angeklagten eingestiegen – Jennifer G., Jennifer M. und Matthias S. Ohne Maske hätten sie sich sehr dicht zu ihr gestellt, sodass sie ihren Stehplatz hinter dem Fahrer verlassen habe, um sich zu schützen, sagt die Zeugin.
Daraufhin habe Jennifer M. sie erstmals mit Kraftausdrücken bedacht. Als Dilan S. fragte, was sie falsch gemacht habe, und auf ihren deutschen Pass verwies, gingen die Beleidigungen offenbar immer weiter und an der Haltestelle in Handgreiflichkeiten über. Es habe damals nicht in ihrer Natur gelegen, bei Beleidigungen einfach wegzugehen, sagt die junge Frau auf die Frage, warum sie nicht schon in der Straßenbahn einfach weggegangen sei.
Die Angeklagten erzählen ihre Version des Geschehenen. Alle geben zu, keinen vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz getragen zu haben. Die 55-jährige Cornelia R. gibt zwar zu, Dilan S. an den Haaren gezogen zu haben. Tritte, Schläge und Beleidigungen bestreitet sie. Ordentlich Alkohol habe man an diesem Tag getrunken, erklärt sie. René H., 52 Jahre alt, will keine Beleidigungen gehört haben. Er habe in der Bahn weiter hinter gestanden, in dem Streit später lediglich deeskalieren wollen.
Der 45-jährige Heiko S., ein bulliger Zwei-Meter-Mann, versichert: „Ich habe diese Person nicht beleidigt und auch nicht angefasst.“ Er habe der Abiturientin lediglich gesagt, sie solle Respekt vor dem Alter haben. Es könne auch sein, dass er „Halt die Fresse“, gesagt habe, relativiert er auf Nachfrage. An ein „Pass auf, was Du in meinem Land sagst“ und ein vulgäres Schimpfwort kann er sich nicht erinnern. Er sei ein bisschen betrunken gewesen.
Matthias S., 43 Jahre alt, spricht gar von Nothilfe, weil ihm Dilan S. auf den Rücken geschlagen habe. Der Berufskraftfahrer behauptet gar, Zivilcourage gezeigt zu haben. Womit, lässt er offen.
Jennifer G. sagt, dass die Vorwürfe teilweise stimmen. „Ich bin aber keine Rassistin“, beteuert die Gastronomin. Möglich sei, dass sie Dilan S. als „Kanakenvieh“ bezeichnet habe. Auf dem Handyvideo von Dilan S. ist zu sehen, wie Jennifer G. der jungen Frau den Stinkefinger zeigt und sie als „Shamuta“ – Hure – bezeichnet. Und die 25-jährige Jennifer M. erzählt, dass Dilan S. mit den Beleidigungen angefangen habe. „Warum wir Nazis keine Masken aufhaben?“, habe sie gefragt. „Irgendwie kam sie nicht klar damit, dass wir sie ignoriert haben“, sagt die jüngste Angeklagte. Dilan S. bestreitet, die Angeklagten als Nazis bezeichnet zu haben.





