Berlin - Neulich fiel ihr ein medizinischer Begriff nicht ein. So etwas passiert ihr häufiger seit einiger Zeit. Auch jetzt kommt die 58-Jährige nicht auf das Wort, als sie von diesem Moment der Verwirrung auf der Intensivstation erzählt, ihrem Arbeitsplatz.
Die Pflegefachkraft hatte zwei Patienten zu betreuen und wollte einem Kollegen etwas zurufen, ebendiesen Begriff, der ihr nun schon wieder nicht einfällt. „Ich solchen Situationen glaube ich fast, dass ich verblöde“, sagt Martina Günther, die eigentlich anders heißt. Doch weil sie darum kämpft, dass ihr eine Berufskrankheit bescheinigt wird, es sich um ein schwebendes Verfahren handelt, bleibt sie lieber anonym.
Günther leidet an Post-Covid, den Spätfolgen einer Infektion mit dem Virus Sars-CoV-2. Sie hat sich auf ihrer Intensivstation bei einem Patienten angesteckt. So wie sich hierzulande Tausende seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 im Job infizierten. „Die bislang als Berufskrankheiten anerkannten Fälle stammen so gut wie ausschließlich aus dem Gesundheitsdienst und dem Heimbereich“, sagt Heinfried Tintner, Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen.
Seit zwei Jahren wartet sie auf Anerkennung
Der promovierte Mediziner beruft sich auf Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Demnach wurden im vergangenen Jahr rund 226.000 sogenannte Verdachtsanzeigen auf Berufskrankheit gestellt, davon betrafen etwa 150.000 Patienten mit Covid-19. Rund 140.000 Fälle wurden entschieden, zirka 100.000 bewilligt. Das entspricht einer Quote von 74 Prozent.
Dagegen gab es 2019, im letzten Jahr vor Corona, bundesweit nur gut 80.000 Verdachtsfälle auf Berufskrankheit, lediglich 44 Prozent wurden anerkannt. Noch seltener war es, dass Infektionen als Arbeitsunfälle deklariert wurden. Rund 13.500 waren es seit Beginn der Pandemie. Bei knapp 44.000 Anträgen macht das 31 Prozent.
Eine unsichtbare Welle rollt auf die Solidargemeinschaft in Deutschland zu. Sie wird die sozialen Sicherungssysteme vor große Herausforderungen stellen. Es ist nicht abzusehen, mit welcher Wucht sie sich auftürmt, aber am Fall der Intensivschwester Martina Günther wird deutlich, dass Post-Covid die Gesellschaft noch lange beschäftigen wird.
Seit zwei Jahren wartet Günther nun schon darauf, dass ihre Krankheit als Folge ihrer Arbeit anerkannt wird. Die zuständige Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) bittet sie stets aufs Neue um Geduld, fordert immer neue medizinische Unterlagen an, prüft und prüft.
Post-Covid kann sich durch viele körperliche, kognitive und psychische Symptome äußern. Vor allem betroffen sind über 60-Jährige, häufig Männer nach schwerem Infektionsverlauf. Zudem unter 60-Jährige, zu zwei Dritteln Frauen, nach mildem oder moderatem Verlauf.
Doch die Intensivschwester kann nicht länger warten. „Ich bräuchte wenigstens eine Reha, die mir bezahlt wird“, sagt sie. Martina Günther arbeitet weiter im Drei-Schicht-Dienst, obwohl es ihr extrem schwerfällt. Ihren Beruf übt sie seit 30 Jahren aus, er ist ihre Leidenschaft, vor allem aber ihre Existenzgrundlage. „Von irgendetwas muss ich ja leben“, sagt sie.
Früher trainierte sie nach dem Dienst im Fitnessstudio
Angesteckt hat sie sich in der zweiten Welle. Im Oktober 2020 war das. Schutzkleidung fehlte, das wenige vorhandene Material hielten die Krankenhäuser unter Verschluss wie teure Medikamente. Martina arbeitete an diesem Tag drei Stunden ohne Unterbrechung im isolierten Bereich, sie schwitzte. „Wir sind ja chronisch unterbesetzt“, sagt sie. Ihre Atemmaske, völlig durchnässt, schützte irgendwann nicht mehr vor dem Virus.
Ein starker Druck auf der Brust war das erste Symptom, er ist bis heute geblieben. Wenn sie sich anstrengt, stellt sich dieses beklemmende Gefühl ein, und das ist nicht selten. „Früher war ich eine sehr sportliche Frau. Wenn möglich, bin ich alle Strecken mit dem Fahrrad gefahren. Nach dem Dienst ging es ins Fitnessstudio“, erzählt sie. „Heute bin ich nach einem Frühdienst zu nichts mehr zu gebrauchen und kann nur auf dem Sofa herumliegen.“ Dazu kommt diese Antriebslosigkeit, die sie manchmal lähmt. Die Depression, die Schübe, gegen die sie sich nicht wehren kann.
In ihrem Krankenhaus helfen ihr die Verantwortlichen, wo sie nur können. Die Oberärztin der Intensivstation hat Günther schon während der akuten Phase der Infektion betreut. Zwei Wochen lag die Pflegekraft im Bett, fast nur auf dem Bauch, zu Hause. Vier Wochen war sie krankgeschrieben. „Ich wollte nicht im Krankenhaus behandelt werden. Als Intensivkrankenschwester weiß ich, was zu tun ist. Und ich wollte so schnell wie möglich wieder arbeiten.“ Nach wie vor kümmern sich die Ärzte um sie. Und auch juristisch bekommt Martina Günther Beistand.
Der BDH Bundesverband Rehabilitation hat sich ihrer Sache angenommen, ein gemeinnütziger Sozialverband und Klinikträger. Rainer Beneschovsky vertritt Günthers Interessen. „Ich habe sie zunächst über ihre Rechte informiert“, sagt der Jurist des BDH. „Ich habe sie über Arbeitsunfähigkeit aufgeklärt, über die Möglichkeiten der Rehabilitation gesprochen, dann kamen wir zum Thema Schwerbehinderung.“
Beneschovsky half, Anträge auszufüllen, merkte dabei selbst, wie dringend die Angelegenheit ist. „Meine Mandantin konnte sich im ersten Moment weder an ihr Geburtsdatum noch an ihre Adresse erinnern.“ Auch die Namen der behandelnden Ärzte waren Martina Günther entfallen, kamen ihr erst ins Gedächtnis zurück, als ihr der Rechtsberater per Google eine Liste infrage kommender Mediziner präsentierte.
Post-Covid: „Es gibt bisher keine Rechtsprechung“
Sechs Fälle hat Beneschovsky derzeit auf dem Tisch. Unlängst war er auf einem Fachkongress zum Thema „Post-Covid als Berufskrankheit“. An die 300 Juristen hatten sich versammelt. Am Ende blieb eine Erkenntnis: „Es gibt bisher keine Rechtsprechung dazu“, sagt Beneschovsky. Das führt zu Unsicherheit und zu Überlastung. Um ihrer Herr zu werden, dieser Eindruck drängt sich Beneschovsky inzwischen auf, werden etliche Anträge auf Berufskrankheit durchgewunken.
Der Fall seiner Mandantin dagegen gestaltet sich langwierig. Deshalb hat Beneschovksy eine Frist gestellt. Mit erstem Erfolg: „Wir haben ein Schreiben der BGW erhalten, wonach – zwar nur halb eindeutig – davon ausgegangen wird, dass die Covid-19-Erkrankung auch als Berufserkrankung anerkannt werden soll“, sagt der Jurist. Doch erneut soll Martina Günther untersucht werden, diesmal in einer Klinik der Berufsgenossenschaften. Das Unfallkrankenhaus Berlin zum Beispiel gehört diesem Verbund an. Rund 20 Patienten mit Post-Covid werden dort momentan medizinisch versorgt.
Die Fakten sind eigentlich klar. Zwar ließen sich die Krankheitsbilder Post-Covid und Long Covid in der Kürze der Zeit nur wenig erforschen, nach knapp zweieinhalb Jahren Pandemie bleiben Fragen offen. Zahlreiche Einzelsymptome können unter diesen Befund fallen. „Doch oftmals ist es relativ eindeutig“, sagt Beneschovsky. „Am häufigsten treten Bluthochdruck, Atemnot bei Belastung und Fatigue auf.“ Chronische Müdigkeit, auch Martina Günther leidet darunter.
Der Expertenrat der Bundesregierung hat das Problem erkannt. In seiner jüngsten Stellungnahme hält er zu Diagnostik und Therapie von Spätfolgen einer Corona-Infektion fest: „Eine besondere Herausforderung liegt gelegentlich darin, Long-/Post-Covid von psychischen oder psychosomatischen Folgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung abzugrenzen.“ Falsche Diagnosen begünstigen Folgeschäden, die Folgekosten verursachen – das ist die Rechnung der Wissenschaftler im Dienste des Staates, sie räumen ein: „Wirksame ursächliche Therapieansätze fehlen bislang, weshalb die Behandlung symptomorientiert erfolgt.“
Die Intensivschwester Martina Günther hat ihren Hausarzt gefragt, ob der ihr etwas gegen ihre Vergesslichkeit verschreiben könne. „Ich habe ihn um ein Medikament zur besseren Durchblutung des Gehirns gebeten“, erzählt sie. „Doch er meinte, ihm seien die Hände gebunden, so ein Medikament könnte er mir nur bei Demenz verschreiben. Ich müsse das schon aus eigener Tasche bezahlen.“ Sie versucht es nun mit einem rezeptfreien pflanzlichen Präparat. „Ich nehme es hochdosiert.“ Der Erfolg der Selbsttherapie tendiere gegen null.
„Es passiert schon, dass Ärzte nicht den Zusammenhang erkennen zwischen Symptomen und möglichen Spätfolgen durch eine Covid-Erkrankung“, sagt Beneschwosky. „Aus telefonischen Beratungsgesprächen wissen wir, dass niedergelassene Ärzte, die nicht oft mit Post-Covid konfrontiert werden, die falschen Rückschlüsse ziehen.“ Das Bewusstsein für diese komplexe Erkrankung wächst nur langsam.
Post-Covid: Oft dürfte eine Reha nicht ausreichen
Noch gibt es keine Chiffre im medizinisch-ökonomischen System, über die sich eine solche Diagnose abrechnen ließe. Die sogenannte Versorgungsmedizin-Verordnung verschlüsselt Fatigue, Atemnot, Bluthochdruck oder kognitive Störungen, Post-Covid oder Long Covid berücksichtigt sie dagegen nicht. Doch ohne klaren Befund keine Therapie, für die Berufsgenossenschaften oder Steuerzahler aufkommen. Dass sie irgendwann in größerem Stil dafür aufkommen müssen, scheint unabwendbar. „Es wird darum gehen, wer eine Reha bezahlt“, sagt Beneschovsky. „In vielen Fällen dürfte eine Reha aber nicht ausreichen.“




