Riad-Antidepressiva erhöhen nicht die Lebensqualität von Depressiven, über einen Zeitraum von zwei Jahren betrachtet. So lautet die Schlussfolgerung einer Studie, die gerade im Fachjournal Plos One erschienen ist. Wissenschaftler der King Saud University in Riad, Saudi Arabien, haben dafür die Gesundheitsdaten von Millionen Patientinnen und Patienten aus den USA ausgewertet. Diese entstammen dem Medical Expenditures Panel Survey, einer nationalen repräsentativen Gesundheitsbefragung aus den USA, die die gesamte Bevölkerung repräsentieren soll.
Die Wissenschaftler untersuchten die Daten von mehr als 17 Millionen Erwachsenen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde. Fast 68 Prozent seien Frauen, schreiben die Forscher. Von ihnen hätten 60,5 Prozent Antidepressiva erhalten. Bei den Männern seien es 51,5 Prozent. Beide Gruppen – die mit und ohne Antidepressiva – wurden in einem Zeitraum von zwei Jahren verglichen, und zwar nach Aussagen zum „allgemeinen Wohlbefinden und die gesundheitsbezogene Lebensqualität“.
Künftig nicht nur auf kurzfristige Wirkung der Medikamente konzentrieren
Zu betonen ist: Hier wurde nicht erfasst, ob mit Antidepressiva die oft schweren Symptome einer akuten Depression erfolgreich behandelt werden konnten oder wie erfolgreich Antidepressiva zur sogenannten Phasenprophylaxe beitragen – etwa der Reduzierung von Häufigkeit und Schwere bipolarer Störungen. Nicht bekannt ist auch die Schwere der Depressionen in beiden Gruppen, ebenso nicht, ob Betroffene eine Psychotherapie erhielten oder wie es um mögliche Vorerkrankungen und die Häufigkeit von Depressionen im Familienumfeld steht.
Die Wissenschaftler aus Riad wenden einen erweiterten Medizinbegriff an, die „Health-Related Quality of Life“ (HRQoL). Neben dem körperlichen Wohlbefinden (Symptome) gehören dazu emotionale, mentale, soziale und verhaltensbezogene Faktoren. Also: Wie gut ist die generelle Stimmung? Wie funktionieren Denken und Konzentration? Wie gut sind die Partnerschaft, die Geborgenheit in der Familie, die sozialen Kontakte, die Zufriedenheit im Beruf?
Die Auswertung der US-Daten ergab: Bei den insgesamt 57 Prozent der Studienteilnehmer, die Antidepressiva erhielten, sei keine stärkere Verbesserung der Lebensqualität zu verzeichnen als bei den 43 Prozent, die keine derartigen Medikamente erhielten. Die Wissenschaftler ziehen das Fazit: „Zukünftige Studien sollten sich nicht nur auf die kurzfristige Wirkung der Pharmakotherapie konzentrieren, sondern vielmehr die langfristigen Auswirkungen pharmakologischer und nicht-pharmakologischer Interventionen auf die HRQoL dieser Patienten untersuchen.“
Kritik: Kausale Zusammenhänge lassen sich nicht herstellen
Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Diese ganzheitliche Sicht setzt sich mehr und mehr durch. Insofern ist das Herangehen der Wissenschaftler aus Riad grundsätzlich zu begrüßen. Dahinter steht die Frage: Mit welchen Strategien gelingt es, an Depressionen Erkrankten dauerhaft ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen? Dies hängt natürlich auch von viel umfassenderen Dingen ab, nicht nur von Medikamentengaben und anderen Therapien.
Befragte Wissenschaftler schätzen die Studie zum Teil recht kritisch ein. „Diese Studie sagt uns nichts über die Wirkung der Einnahme von Antidepressiva auf die Lebensqualität eines Patienten“, urteilt zum Beispiel der Psychiater David Curtis, Professor am Genetics Institute des University College London. Sie vergleiche einfach Menschen, die Antidepressiva einnahmen, mit jenen, die es nicht taten. „Man könnte durchaus annehmen, dass die Menschen, die Antidepressiva einnahmen, schwerer depressiv waren als diejenigen, die es nicht waren.“
Aus dieser Sicht könnte man laut David Curtis argumentieren, dass die Antidepressiva anscheinend wirksam gewesen seien und dass Menschen, die an einer schwereren Depression litten, durch ihre Anwendung keine deutlich reduzierte Lebensqualität aufwiesen. „Die Realität ist jedoch, dass diese Art von Beobachtungsstudie uns nichts über die Kausalität sagt“, so Curtis. Dafür seien klinische Studien erforderlich, und zahlreiche solcher Studien hätten gezeigt, dass Antidepressiva im Durchschnitt geeignet seien, „um depressive Erkrankungen zu behandeln und die Lebensqualität von Patienten mit erheblichen Depressionen zu verbessern“.
Die Studie berücksichtige nicht, ob die betreffenden Personen gerade wegen ihrer Depression eine Psychotherapie machten, kritisiert Eva-Lotta Brakemeier, Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie der Universität Greifswald. Solche Therapien seien in den USA weit verbreitet. Und die Effektstärke einer Psychotherapie sei mit medikamentösen Behandlungen mindestens vergleichbar. Zudem wiesen Studien deutlich auch auf die Wirksamkeit der Psychotherapie bezogen auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität hin.
Lediglich ein kleiner Effekt im Vergleich zu Placebo
Auch der Psychiater Tom Bschor, Professor am Universitätsklinikum der TU Dresden, weist auf die Schwierigkeit hin, aus der Studie belastbare Schlüsse zu ziehen. „Präsentiert wird eine Längsschnittuntersuchung einer Bevölkerungsstichprobe“, sagt er. Über 17 Millionen Erwachsene mit einer Depressionsdiagnose seien über zwei Jahre lang wiederholt untersucht worden. Die Entscheidung, welche Teilnehmer ein Antidepressivum erhielten und welche nicht, sei „nicht durch Zufall bedingt, sondern wird durch relevante Unterschiede in den beiden Gruppen bedingt sein – etwa Zugang zum Gesundheitswesen, Krankenversicherungsstatus, Schwere der Depression, Bildung, Einstellung zu Medikamenten und vieles anderes“. Die untersuchte Population sei zu 89 Prozent weiß, zu 63 Prozent wohlhabend – mittleres oder hohes Einkommen – und zu 64 Prozent privat versichert.
Wie auch andere Experten sieht Tom Bschor es methodisch als „nicht möglich“ an, einen kausalen Zusammenhang herzustellen zwischen den beobachteten Größen – der Einnahme der Antidepressiva und der Lebensqualität. Dennoch habe die Studie einen hohen Wert, sagt Bschor, „da sie im Unterschied zu den nur auf wenige Wochen angelegten randomisierten Studien einen Verlauf von zwei Jahren beobachtete und da sie ein realistisches Abbild der tatsächlichen Behandlungssituation gibt“. Bschor ist Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Autor des 2018 beim Südwest-Verlag erschienenen Buches „Antidepressiva. Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte“.
Für Tom Bschor stützt die Studie eine interessante Beobachtung. Wie er erklärt, fänden sich auch in randomisierten Studien – also bei einer zufallsbedingten Verteilung von Probanden – beim Einsatz von Antidepressiva im Vergleich zu Placebo „lediglich ein kleiner Effekt auf die depressive Symptomatik“ sowie ein „inkonstanter oder allenfalls in den ersten zwei bis drei Monaten vorhandener Effekt auf die Lebensqualität“. Laut einer Meta-Analyse von 2009 seien rund 70 Prozent des Effekts von Antidepressiva auf den Placebo-Effekt zurückzuführen, schreibt das Science Media Center (SMC), eine Einrichtung zur Förderung der Wissenschaftskommunikation.
Langzeit-Antidepressiva verringern das Risiko eines Rückfalls
Ärzte sollten stärkere Zurückhaltung bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen zeigen, lautet eine der Schlussfolgerungen von Tom Bschor aus der Studie, „nicht nur wegen des fehlenden Effekts auf die Lebensqualität“. Sondern es mehrten sich auch die Befunde, dass die Verordnung von Antidepressiva „langfristig zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes mit Chronifizierung und häufigeren Rückfällen der Depression und in der Folge der Notwendigkeit einer Dauerverschreibung von Antidepressiva führt“. Vor der Verordnung sollten andere Behandlungsmöglichkeiten eingesetzt werden: darunter Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe, Aufklärung, Tagesstrukturierung und soziale Unterstützung.
Dem gegenüber sagt die Psychiaterin Gemma Lewis vom University College London: „Klinische Studien mit experimentellem Design haben ergeben, dass Antidepressiva die psychische Lebensqualität verbessern.“ Und sie kritisiert, dass man in der Studie nicht erfahre, seit wann die Betroffenen Antidepressiva nähmen, wie ihr Zustand und ihre Lebensqualität vorher gewesen seien. Sie verweist auf die sogenannte Antler-Studie von 2021, die ergeben habe, „dass die weitere Einnahme von Langzeit-Antidepressiva das Risiko eines Rückfalls verringerte und dazu beitrug, die Lebensqualität zu erhalten, obwohl viele Menschen sie auch sicher absetzen könnten“.
„Die Studie dient dazu, Forscher daran zu erinnern, wie wichtig es ist, die langfristigen Ergebnisse der Behandlung von Depressionen zu messen“, erklärt Michael Sharpe, Professor für Psychologische Medizin an der University of Oxford. Dennoch lasse diese Studie keine klaren Schlussfolgerungen auf die Behandlung von Patienten mit Depressionen zu, und sie sollte „Patienten, die von der Einnahme dieser Medikamente profitieren könnten, sicherlich nicht entmutigen“.


