Klimawandel

Berlins Obdachlosen droht der Hitzetod, die Gefahr wächst von Sommer zu Sommer

Auf der Straße zu leben, ist an heißen Tagen extrem gefährlich. Der Tod droht im Schlaf. Doch jeder Berliner kann etwas dagegen tun. Ein Besuch am Bahnhof Zoo.

Lebensgefahr: Ein Obdachloser schläft am Bahnhof Zoo ungeschützt in der prallen Sonne.
Lebensgefahr: Ein Obdachloser schläft am Bahnhof Zoo ungeschützt in der prallen Sonne.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Berlin - Ebay Kleinanzeigen hilft. Die drei Mitarbeiter packen kräftig mit an. Bananen sind gefragt und Wasser, immer wieder Wasser. Wie so oft im Sommer. Vor allem an den extrem heißen Tagen, die von Jahr zu Jahr zunehmen in Berlin. Dann brütet der Bahnhof Zoo unter der prallen Mittagssonne, und vor der Ausgabestelle der Stadtmission ist kein schattiges Fleckchen mehr zu finden.

Die drei Mitarbeiter von Ebay laufen in einem Raum unter den Bahngleisen hin und her, laufen zu Kisten mit Lebensmitteln, holen Getränke, reichen sie durch zwei geöffnete Fenster nach draußen, wo Menschen anstehen, Obdachlose, alle warten geduldig. Einer lässt sich erschöpft auf dem Boden nieder.

Die drei von der Internetplattform sind freiwillig hier, die Firma bietet ihren Leuten einmal wöchentlich die Möglichkeit, am Zoo Lebensmittel auszuteilen, statt im Büro zu arbeiten. Teambuilding durch soziales Engagement ist das für sie, ein Glücksfall für die Stadtmission. Denn freiwillige Helfer sind rar geworden in der Corona-Pandemie. Der Bedarf dagegen wächst, auch im Sommer. Oder – gerade dann. Hitze kann für Obdachlose tödlich sein.

Rund 600 Menschen kommen im Durchschnitt täglich zur Stadtmission am Zoo. Mit den Temperaturen steigt auch ihre Zahl, zuletzt um gut 100. Sie suchen einen Ort, der Erfrischung und Schutz verspricht: Neben Wasser erhalten sie feuchte Handtücher, die den Nacken kühlen, Basecaps, die vor einem Sonnenstich bewahren, Regenschirme als Schattenspender. Und natürlich Sonnencreme.

Obdachlose ansprechen, wenn sie in der prallen Sonne schlafen

„Neulich sind hier wieder eine gute Handvoll Rettungswagen vorgefahren, weil Leute in der Hitze umgekippt sind“, sagt Helge Riesberg. Er wird gleich seine Schicht an der Ausgabestelle beginnen und bis 23 Uhr für Obdachlose da sein. Riesberg ist Mitarbeiter der Stadtmission. Er lebte selbst einige Zeit auf der Straße, kennt die Gefahren des Sommers aus eigener Anschauung, weiß, wie schnell man einen Kreislaufkollaps erleidet. Und wie wichtig es sein kann, dass dann jemand zur Stelle ist, der die 112 anruft.

„Wer einen Obdachlosen in der prallen Sonne liegen sieht, sollte ihn nicht einfach da liegen lassen, sondern sich um ihn kümmern“, sagt Riesberg. „Mit der Fußspitze antippen, laut ansprechen, aber denjenigen nicht anfassen und nicht dicht darüber beugen, denn dann könnte er aggressiv reagieren aus Angst, bestohlen zu werden.“

Wenn Riesberg im Sommer aus dem Haus geht, nimmt er stets zwei, drei Wasserflaschen aus Plastik mit, 0,5 Liter, 25 Cent Pfand, die verschenkt er an Bedürftige. „Mit solchen Kleinigkeiten kann jeder einzelne viel bewirken.“ Riesberg stuft die Hilfsbereitschaft der Berliner sehr hoch ein. „Doch das Bewusstsein für die Gefahren des Sommers ist noch nicht so stark ausgeprägt“, sagt er. „Von Kältetoten im Winter haben die meisten schon mal gehört, an das Risiko, durch Hitze zu sterben, denken die Leute offenbar weniger.“

Der Tod droht im Schlaf. Wenn die dauernde Hitze ermüdet. Wenn Obdachlose tagsüber in einem stickigen Zelt ausharren. Wenn Alkohol im Spiel ist, vor allem dann. Doch es muss nicht immer zum Äußersten kommen, zu einem Kreislaufversagen. Ein großflächiger Sonnenbrand kann ebenfalls ein Notfall werden.

„Wenn nicht die ganze Stadtgesellschaft hinschaut, funktioniert es nicht“, sagt Barbara Breuer, die Pressesprecherin der Stadtmission erklärt, wo sich der prüfende Blick lohnt. „Obdachlose halten sich während der Sommermonate bevorzugt in Parks und Grünanlagen auf oder unter Brücken wie etwa am Ostbahnhof oder Bahnhof Zoo.“ Breuer hat gerade die drei von Ebay herzlich begrüßt; es geht familiär zu hier in der Ausgabestelle.

Die meisten Notunterkünfte, die im Winter Schlafplätze anbieten, haben im Sommer geschlossen. Eine der wenigen, die noch geöffnet haben, die Notunterkunft der Stadtmission am Lichtenberger Containerbahnhof, fährt in der warmen Jahreszeit die Kapazität auf die Hälfte herunter, auf 60 Betten. Und auch das Hygienecenter am Zoo hat sich verkleinert. Allerdings nicht, weil Sommer ist, sondern das Coronavirus größere Abstände erfordert. Vorher waren sieben Duschen in Betrieb, jetzt lediglich drei. Die Warteschlange ist lang, das Bedürfnis groß, sich zu erfrischen oder die geschundenen Füße zu waschen, damit sich die Wunden nicht entzünden, eitern, das Laufen unmöglich machen, was wiederum lebensgefährlich werden kann.

Nicht alle, die für eine Dusche anstehen, machen den Eindruck, als würden sie tagtäglich lange Wege zu Fuß  zurücklegen. Das Ehepaar zum Beispiel, wohl jenseits der 70, dessen Vermieter sich weigert, das Badezimmer altersgerecht umzurüsten, da ihm das zu teuer erscheint und sich die Wohnung an zahlungskräftigere Interessenten abtreten ließe.

Auch vor der Ausgabestelle stehen Menschen, die mehr wie Kunden eines Supermarkts aussehen, denn als Hilfsbedürftige. Gerade bittet jemand am Fenster um ein Bund Möhren, dass er in einem der Kartons erspäht hat. Vermutlich soll daraus sein Abendessen werden. Der Mann ist Mitte 40, trägt ein weißes Hemd, ist gründlich rasiert, das Haar akkurat frisiert. Er dürfte zu denjenigen zählen, die im Sommer 2022 die Inflation in existenzielle Nöte stürzt. Immer mehr von ihnen reihen sich in die Schlange am Bahnhof Zoo ein.

Die meisten Lebensmittel, die dort ausgegeben werden, stammen von Supermärkten, über die Berliner Tafel gelangen sie zur Stadtmission. Bäckereien liefern regelmäßig Brot und Brötchen, die Feinkostkette Lindner spendet manchmal sogar erlesene Leckereien. Neulich hat Fußball-Bundesligist Hertha BSC Unmengen an Würstchen und Kartoffelsalat vorbeigebracht, die von einer Mitgliederversammlung übrig geblieben waren und nun unter den Bahngleisen am Zoo tiefgekühlt lagern.

Der Stadtmission fehlen ehrenamtliche Helfer

Der Mann mit dem weißen Hemd packt seine Möhren in einen Einkaufskarren. Den angebotenen Kaffee lehnt er dankend ab. „Solche Gäste haben wir in letzter Zeit häufig“, erzählt Tim Schneck, der bei der Stadtmission für die Ehrenamtler zuständig ist. Er sagt: „Gäste“. Vor der Pandemie traf dieses Wort noch besser zu. In dem Raum, in dem sich jetzt die Kisten mit Lebensmitteln stapeln, stehen noch einige der Tische, an denen damals 50 Menschen Platz nehmen und essen konnten. An der Stirnwand ein Tresen, an dem die Mahlzeiten ausgegeben wurden. Die Menschen, die das Essen in Empfang nahmen, stehen jetzt vor den beiden Fenstern.

„Vielen ehrenamtlichen Helfern fehlt dieser direkte Kontakt, das persönliche Gespräch“, sagt Schneck. Das ist nicht der einzige Grund, warum der Stadtmission die Freiwilligen fehlen. Als die Pandemie über Berlin hereinbrach, durfte der zur evangelischen Landeskirche gehörende Verein niemanden beschäftigen, der älter als 60 Jahre alt war. Sie wurden zu den Risikogruppen gezählt. Viele Senioren suchten sich andere Aufgaben. „Wir müssen jetzt versuchen, sie zurückzugewinnen“, sagt Schneck. Seit dem zurückliegenden Wochenende ist er deshalb hauptamtlich als Ehrenamtskoordinator bei der Stadtmission eingestellt.

Rund 240 Freiwillige engagierten sich vor Corona für die Obdachlosen. „Im Moment sind wir bei rund 120“, sagt Schneck. Auch Ebay Kleinanzeigen legte eine lange Pause ein, ist jetzt aber wieder dabei.

Schneck selbst ging in der Pandemie den umgekehrten Weg, Corona brachte ihn zur Stadtmission. Als Diskjockey stand er plötzlich ohne Aufträge da. Seine Mutter, jenseits der 80, musste wegen Infektionsgefahr aussteigen. Sie gab den Tipp, so kam Schneck zur Obdachlosenhilfe. Auch andere aus der Eventsparte und anderen Branchen im Lockdown-Stillstand engagierten sich im Winter, packten zum Beispiel Lunchpakete für Bedürftige, die an den Suppenküchen vor verschlossenen Türen standen.

Die Berliner helfen gern. Das hat Helge Riesberg ja gesagt. Das sagt nun auch Julia Wächter. Der Sommer sei eine gute Zeit, damit anzufangen, meint sie: „Die Leute, die zu uns kommen, sind in der warmen Jahreszeit entspannter“, sagt die Ehrenamtliche. An diesem Tag gibt Wächter Wasser aus. Wasserinseln nennen sie das, wenn sie vor dem Bahnhof auf Tabletts die lebenswichtige Erfrischung herumgereichen.

Julia Wächter ist bei der Rentenversicherung beschäftigt. Sie hat ihre Arbeitszeit reduziert, um für Obdachlose da sein zu können. Sie muss weitermachen, sie sagt noch: „Es ist befriedigender für mich, wenn ich gebe, als wenn ich nehme.“ An den Fenstern erscheinen immer neue Gesichter. Dazwischen an der Wand hängt ein großer Jesus aus Metall an einem hölzernen Kreuz.