Die kurze Gedenkfeier am Haus Fürstenwalder Damm 27 ist gerade vorüber, da geraten sich Rainer Löber und Gion Voges schon wieder in die Haare. „Das Gericht hat mir vor einem halben Jahr bestätigt, dass ich im Recht bin“, sagt der 60-jährige Unternehmer und Hausbesitzer Löber. Voges, gut zwei Jahrzehnten älter und Vorsitzender des Bürgervereins Rahnsdorf, schüttelt energisch den Kopf. „Solch große Werbeplakate an einem Haus anzubringen, ist nach Baurecht nicht zulässig, das ist Quatsch“, wettert er.
Löber, ein gepflegter und stets freundlich lächelnder Mann, hat erkennbar Mühe, Haltung zu bewahren. „Das Gericht sieht das anders“, beharrt er auf seiner Meinung. Voges, ein ehemaliger Staatsanwalt in dunklem Wollmantel und mit verkniffenem Mund, winkt ab. „Das hat nichts zu sagen, ich bin schließlich Jurist“, sagt er knarzig.
Während sich die beiden Männer aus Rahnsdorf immer lautstärker streiten, um den Autoverkehr auf dem breiten Fürstenwalder Damm zu übertönen, wiegen sich hinter ihnen die Blätter einer einsamen Rose im Wind. Die Blume steckt in einer Gedenktafel, die wenige Minuten zuvor auf dem Gehweg vor dem Haus mit der Nummer 27 eingeweiht worden ist.
Warum die Tafel in dem Köpenicker Ortsteil auf dem Gehweg steht und nicht mehr wie früher am Haus hängt, hat viel mit Eitelkeiten und Rechthaberei zu tun, aber auch mit Bürokratie und Politik. Eine typische Berliner Geschichte also, über die man trefflich spötteln könnte, wenn das Ereignis, das all dem zugrunde liegt, nicht so tragisch wäre und wenige Wochen vor Ende des Zweiten Weltkrieges noch sinnlos Menschenleben gekostet hätte.
6. April 1945: Das Brot wurde knapp in Berlin
Die Geschichte, die als Rahnsdorfer Brotaufstand bekannt geworden ist, trug sich am 6. April 1945 zu. Die Rote Armee hatte bereits die Oder erreicht und bereitete sich auf die Schlacht um die Seelower Höhen vor, um danach den Endkampf um Berlin zu beginnen. Die Versorgungslage hatte sich dramatisch verschlechtert, selbst das Brot wurde knapp. Der für Rahnsdorf zuständige Ortsgruppenleiter der NSDAP, Hans Gathemann, wies in dieser Situation an, dass Brot nur noch an Mitglieder nazistischer Organisationen verkauft werden dürfe.
Als diese Nachricht die Runde machte, versammelten sich am Vormittag des 6. April 1945 vor der Bäckerei am Fürstenwalder Damm 27 viele Rahnsdorfer Bürger, vor allem Frauen. Zeitzeugen sprachen später von 150 bis 200 Menschen, die lautstark die Herausgabe von Brot verlangten. Doch Bäckermeister Deter, ein strammer Parteigenosse, blieb hart. Brot gebe es nur noch für Volksgenossen, das wertvolle Lebensmittel sei zu schade für Drückeberger und Volksschädlinge, soll er den wartenden Menschen zugerufen haben.
Einer der Zeitzeugen war der vor einigen Wochen verstorbene Reinhard Heubeck. Der Rahnsdorfer war damals zehn Jahre alt; seine Mutter hatte ihn zur Bäckerei Deter geschickt, um Brot zu kaufen. „Der Bäcker holte NSDAP-Ortsgruppenführer Gathemann zu Hilfe“, erinnerte sich Heubeck vor einigen Jahren im Gespräch mit dieser Zeitung. „Ich werde nie vergessen, wie er auf dem Ladentisch sprang, mit der Pistole auf die Menge zielte. Und wie der Tischler Hilliges, der damals zufällig im Laden war, Gathemann mutig entgegentrat.“

Der 1891 geborene Max Hilliges war an jenem Tag in der Bäckerei, um dort Reparaturarbeiten auszuführen. Zwei Jahre nach Kriegsende erinnerte sich seine Witwe Elise Hilliges in einer Zeugenaussage an das Geschehen: „Als mein Mann den Aufmarsch der Frauen sah, sagte er zu Gathemann: ‚Gib doch den Frauen Brot, sie wollen es ja nicht für sich, sondern für ihre Kinder.‘ Gathemann ging darauf nicht ein; so kam es zu einem Wortwechsel zwischen den beiden, in dem mein Mann sagte: ‚Es dauert ja nicht mehr lange, dann musst du ja deinen braunen Rock auch ausziehen.‘“
Noch an diesem 6. April wurden Hilliges und weitere 14 Rahnsdorfer Bürger – Frauen zumeist, die bei den Protesten am Bäckerladen dabei waren – von der Polizei abgeholt und als „Volksschädlinge“ inhaftiert.
Max Hilliges und Margarete Elchlepp wurden in Plötzensee enthauptet
Am nächsten Morgen überstellten die Beamten den Tischler und die beiden Schwestern Margarete Elchlepp und Gertrud Kleindienst, die in der aufgeheizten Situation in der Bäckerei zu vermitteln versucht hatten, als angebliche Rädelsführer ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Dort verurteilte ein Standgericht die drei Beschuldigten wegen Landfriedensbruch und Wehrkraftzersetzung zum Tode.
Max Hilliges und Margarete Elchlepp wurden noch in der gleichen Nacht gegen 0.45 Uhr in der Berliner Haftanstalt Plötzensee enthauptet. Die Todesstrafe gegen Gertrud Kleindienst war kurz zuvor in eine achtjährige Zuchthausstrafe umgewandelt worden, wohl auch, weil sie Mutter von fünf Kindern war.
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels notierte das Geschehen von Rahnsdorf in seinem Tagebuch. Am 8. April 1945 schrieb er: „Es handelt sich natürlich nur um Gesindel, das diese Aufstände veranstaltet, und dieses Gesindel muss zusammengeschossen werden. … Von der Tatsache der Verurteilung und Liquidierung der beiden Rädelsführer lasse ich die Rahnsdorfer Bevölkerung durch Plakate unterrichten. Ich glaube, dass das sehr ernüchternd wirken wird. … So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will.“
Nach dem Krieg geriet der Rahnsdorfer Brotaufstand schnell in Vergessenheit. NSDAP-Ortsgruppenleiter Gathemann konnte zwar von den sowjetischen Militärbehörden aufgespürt und festgenommen werden. Am 1. August 1945 wurde er von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und anschließend erschossen. Aber über das Geschehen im April 1945 wurde in Rahnsdorf nicht mehr gesprochen. Auch die Bäckerei Deter existierte weiter und verkaufte noch viele Jahre lang Brot und Kuchen.
Erst einige Jahre nach der Wende lebte die Erinnerung wieder auf. „Ein ehemaliger Bewohner Rahnsdorfs, der jetzt in London lebt, hatte mir 1996 geschrieben“, erzählt Werner Zimmermann, der Ortschronist des Köpenicker Ortsteils. „Johann Lange war das, der als Kind mit seiner jüdischen Mutter und seinen Geschwistern 1939 noch nach England ausreisen konnte.“ Lange habe in England die dort veröffentlichten Tagebücher von Goebbels gelesen und sich erkundigt, wie man in Rahnsdorf an die Opfer des tragischen Geschehens erinnert. „Gar nicht, habe ich ihm gesagt, und daraufhin wandte er sich mit einem Brief an den Berliner Senat und überwies eine Spende von 600 D-Mark für eine Gedenktafel.“

Zwei Jahre später, 1998, wurde eine Tafel am Haus Fürstenwalder Damm 27 enthüllt, die an den Brotaufstand und die Opfer erinnerte. 18 Jahre später aber verschwand sie wieder. Rainer Löber, ein Innenarchitekt und Unternehmer, hatte 2016 das Grundstück am Fürstenwalder Damm mit dem heruntergekommenen Wohnhaus erworben und ließ das Gebäude aufwendig sanieren.
„Das Haus war eine Ruine, kurz vor dem Einsturz, und so habe ich die Tafel abschrauben lassen, um sie vor einer Beschädigung im Zuge der Bauarbeiten zu schützen“, erklärt der 60-Jährige. Er habe sie zunächst im Keller eingelagert und sie schließlich 2018 der Historischen Kommission in Berlin übergeben. „Gegen Quittung“, betont Löber. „Und dort, bei der Historischen Kommission, liegt sie immer noch im Archiv.“
Das Berliner Gedenktafelprogramm mit den weißen Porzellanschildern
Die Historische Kommission, ein eingetragener Verein, betreut wissenschaftlich und organisatorisch das Berliner Gedenktafelprogramm mit den weißen Porzellanschildern, die an bedeutende Berliner Persönlichkeiten oder Ereignisse erinnern. Auch die 1998 am Haus Fürstenwalder Damm 27 angebrachte Tafel gehörte dazu.
Nachdem sie jedoch 2016 entfernt worden war, habe er sie in einem erbitterten Rechtsstreit als Druckmittel einsetzen wollen, erzählt Löber. „Ich sagte, wenn ich mein Recht bekomme, dann kommt auch die Tafel wieder ans Haus.“ Es ging um den Antrag, an dem Haus am Fürstenwalder Damm zwei große Werbetafeln am Hausgiebel anbringen zu dürfen, die auf Löbers Firmen in dem Gebäude aufmerksam machen sollten. Das Bauamt aber lehnte die Werbetafeln ab.
Mehr als fünf Jahre dauerte der Rechtsstreit. Das Haus war inzwischen saniert worden, ins Erdgeschoss waren eine Arztpraxis, ein Blumenladen, ein Friseur und eine Buchhaltungsfirma eingezogen. Der Bürgerverein Rahnsdorf drängte nach Abschluss der Bauarbeiten im Jahr 2019 darauf, dass die Gedenktafel wieder angebracht wird. „Aber Herr Löber weigerte sich, dies zu tun“, erzählt Bürgervereinsvorsitzender Voges. „Er verwies auf den Rechtsstreit mit dem Bezirksamt und verlangte, dass unser Verein sich auf seine Seite stellt. Wenn er dann mit unserer Unterstützung vor Gericht gewinnen sollte, werde er auch die Tafel wieder anbringen, sagte er. Aber das kam für uns nicht infrage.“
In der Folgezeit eskalierte der Streit zwischen Hausbesitzer und Bürgerverein, jede Seite warf der anderen vor, mit falschen Behauptungen zu argumentieren. Der Verein wandte sich schließlich an die Bezirksverordnetenversammlung in Köpenick, die sich 2019 einstimmig für eine neue Gedenktafel auf dem Bürgersteig vor Löbers Haus aussprach. Nun war die Verwaltung am Zug, aber das Genehmigungsverfahren zog sich in die Länge. Es gebe Vorschriften, mit denen öffentliches Straßenland barrierefrei gehalten werden soll, hieß es. „Wir hatten den Eindruck, dass der Antrag von Behörde zu Behörde wanderte und niemand eine Entscheidung treffen wollte“, sagt Voges.
Nach mehr als drei Jahren ist nun der Beschluss der Köpenicker Stadtverordneten endlich umgesetzt worden. Vor dem Zaun des Grundstücks Fürstenwalder Damm 27 steht jetzt eine kleine Stele, an der eine von der Königlichen Porzellan-Manufaktur gestaltete Berliner Gedenktafel zur Erinnerung an die Opfer des Rahnsdorfer Brotaufstandes hängt.

Dietrich Elchlepp freut sich darüber sehr. Der ehemalige Bundestags- und Europaabgeordnete der SPD, der vergangenen Freitag zu der kleinen Gedenkfeier anlässlich der Einweihung der Tafel aus seinem Heimatort bei Freiburg angereist war, hat zwar keine Erinnerungen mehr an die im April 1945 in Plötzensee hingerichtete Margarete Elchlepp, die die angeheiratete Cousine seines Vaters war. „Als Siebenjähriger habe ich zwar von dem Mord gehört, als der Cousin meines Vaters unsere Familie im Schwarzwald besuchte“, erzählt der 84-Jährige. „Aber die Hintergründe dieses Verbrechens habe ich erst vor wenigen Jahren erfahren, im Zuge der Bemühungen, eine neue Gedenktafel an diesem Haus anzubringen. In unserer Familie wurde nicht viel darüber gesprochen, vielleicht wohl auch deshalb, weil das Leid so unvorstellbar und damit unaussprechlich war.“






