Yad Vashem

Wie zwei Familien aus Berlin und Brandenburg ein jüdisches Paar vor den Nazis retteten

Nur wenige Deutsche riskierten etwas, um Juden zu verstecken. Dass es möglich war, zeigt die Geschichte von vier „Gerechten unter den Völkern“.

Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt: Die Enkeltöchter der Retter nehmen die Urkunden von Israels Botschafter Ron Prosor und Senatorin Bettina Jarasch entgegen.
Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt: Die Enkeltöchter der Retter nehmen die Urkunden von Israels Botschafter Ron Prosor und Senatorin Bettina Jarasch entgegen.dpa/Christoph Soeder

Die wichtigsten Gäste betreten den Saal im Roten Rathaus als Letzte durch eine Seitentür. 27 Menschen, festlich gekleidet, ältere Damen, Schulkinder, deren Eltern, zwei Männer tragen Kippa. Sie sprechen leise Deutsch und Englisch, als sie sich auf die reservierten Sitzplätze verteilen. Sie sind die Familien. Oder, wie einer von ihnen später sagen wird: Sie sind die Familie. Eine neue Verwandtschaft, miteinander verbunden durch die Vergangenheit.

Im Roten Rathaus werden an diesem Dienstag vier Menschen als „Gerechte unter den Völkern“ gefeiert. Das ist ein Ehrentitel, den die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel an Menschen verleiht, die Juden das Leben gerettet haben im nationalsozialistischen Deutschland oder den von den Deutschen besetzten Ländern. Ohne dafür etwas zu verlangen, unter Gefahr für die eigene Sicherheit. Fast 28.000 Menschen aus 51 Ländern auf der Welt sind bisher als Gerechte unter den Völkern geehrt worden. Darunter nur 641 Deutsche.

Zu ihnen gehören Anna und Bruno Schwartze, ein Berliner Ehepaar, und Helene und Friedrich Hübner aus Brandenburg. Dass sie geehrt werden, steht seit 2018 fest, aber erst jetzt werden die Urkunden und Medaillen an ihre Nachfahren übergeben. Die Ehepaare kannten einander offenbar kaum, obwohl beide halfen, ein weiteres Paar zu retten: Henriette und Moritz Mandelkern. Auch Nachfahren der Mandelkerns sind nach Berlin gereist.

Bettina Jarasch, die Verkehrssenatorin, begrüßt die Familien und die Gäste, darunter sind der Rabbiner Yehuda Teichtal, die Verlegerin Friede Springer, eine große Gruppe Berliner Polizeischüler in Uniform. Jarasch richtet Grüße von Franziska Giffey aus, die an der Ministerpräsidentenkonferenz teilnehmen muss. Sie dankt dem israelischen Botschafter Ron Prosor für die Idee, die Urkunden und Medaillen im Rathaus zu übergeben. Sie sagt: „Wir wissen alle, dass es zu wenig Widerstand im Nationalsozialismus gab.“ Umso dankbarer sei sie für den Mut der Wenigen.

Mut ist eine schwer fassbare Eigenschaft

Ron Prosor, israelischer Botschafter

Moritz Mandelkern war Schneider, er lebte mit seiner Frau Henriette und dem Sohn Siegfried, Siggi, in der Torstraße, gleich am Rosenthaler Platz. Siggi war 15, als er ins KZ Sachsenhausen verschleppt wurde, mit 16 wurde er nach Polen deportiert, mit 18 schrieb er von dort eine letzte Postkarte an seine Eltern. Sie erreichte die Mandelkerns im November 1942. Im Dezember klopfte es an ihrer Tür, sie öffneten nicht, rührten sich nicht, entgingen so der Deportation. Am selben Abend bot Anna Schwartze, die mit ihrem Mann und Sohn im selben Haus wohnte, ihren jüdischen Nachbarn ein Versteck an. Eine Dachkammer. In die allerdings nur einer der beiden einziehen konnte.

Vier Menschen verstecken sie nun auf dem Brandenburger Hof

Sandra Witte, die an der israelischen Botschaft arbeitet, erzählt die Geschichte der Rettung im Saal des Rathauses. Die Mandelkerns beschließen, dass Moritz in die Dachkammer zieht, er wird sie 18 Monate lang nicht mehr verlassen, einen winzigen Raum ohne Heizung und Beleuchtung, in dem er sich kaum bewegen darf, nicht bemerkt werden. Seine Frau Henriette flieht nach Groß-Schönebeck in Brandenburg. Dort lebt bereits ihre Cousine mit ihrem Sohn in einem Versteck. Auf dem Bauernhof von Helene und Friedrich Hübner.

Im Mai 1944 wird das Haus in der Torstraße von Bomben getroffen, wie durch ein Wunder überlebt Moritz Mandelkern. Er musste ja auch bei Luftalarm im Haus ausharren. Er schafft es sogar, sich unter falschem Namen medizinisch versorgen zu lassen, dann fährt er nach Groß-Schönebeck, die Hübners nehmen auch ihn auf, vier Menschen verstecken sie nun, bis die Rote Armee den Ort im April 1945 befreit.

„Mut ist eine schwer fassbare Eigenschaft“, sagt Ron Prosor, der Botschafter Israels, bevor er die Urkunden und Medaillen an Enkeltöchter der Retter übergibt. „Aber wenn wir Mut sehen, erkennen wir ihn.“

Cornelia Ewald bedankt sich für die Ehrung ihrer Urgroßeltern, der Schwartzes. Der kleine Bruno kommt mit ihr auf die Bühne, er gehört zur jüngsten Generation ihrer Familie. Er heißt wie sein Ururopa und wächst nun mit der Geschichte auf, die in seiner Familie lange kaum bekannt war. Anna und Bruno Schwartze starben früh. Cornelia Ewald hat vor vier Jahren zum ersten Mal von ihrer Rettungsaktion gehört, sie sagt, sie sei sich nicht sicher, „ob Bruno und Anna sich als Helden sahen“. Aber sie wünsche „uns allen den Mut, unsere Nachbarn als Menschen und Freunde zu sehen“.

Nächstes Jahr in Jerusalem!

Daniel Mann-Segal, Großneffe des geretteten Moritz Mandelkern

Gundela Suter nimmt Urkunde und Medaille für ihre Großeltern in Empfang, die Hübners aus Groß-Schönebeck. Sie kannte die Geschichte, sagt sie. Aber was war das Motiv? Ihr Großvater sei sehr religiös gewesen, ihre Großmutter auch christlich geprägt, eine Frau aus einer großen Familie, herzlich und gastfreundlich. Erst vor Kurzem hat Suter erfahren, dass ihre Großmutter zweimal in der Woche Lebensmittel nach Berlin bringen ließ, für Moritz Mandelkern in der Dachkammer. Die drei kleinen Töchter der Hübners hielten dessen versteckte Frau für Tante Henny, die in den Stall verschwand, wenn jemand kam.

Drei Familien, die zu einer geworden sind: Nachfahren der Ehepaare Schwartze, Hübner und Mandelkern im Roten Rathaus in Berlin, mit Bettina Jarasch.
Drei Familien, die zu einer geworden sind: Nachfahren der Ehepaare Schwartze, Hübner und Mandelkern im Roten Rathaus in Berlin, mit Bettina Jarasch.dpa/Christoph Soeder

Schließlich spricht Daniel Mann-Segal aus Melbourne, Australien. Moritz Mandelkern war der Onkel seines Vaters. Jahrelang habe er die Geschichte seiner Familie erforscht, zuletzt gemeinsam mit den Nachkommen der Schwartzes und der Hübners, „wir sind zu einer Familie geworden“, sagt er. Die Menschlichkeit ihrer Retter zu erleben, habe den Mandelkerns die Kraft gegeben, trotz der Ermordung ihres Sohnes im Holocaust weiterzuleben. Sie halfen erst anderen Überlebenden in Berlin, wanderten dann nach Israel aus.

Dort sind nun die Namen ihrer Retter in Stein geschlagen, in einer Wand für die Gerechten unter den Völkern in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. In Berlin wiederum liegen Stolpersteine für die Mandelkerns. Dort hat sich die neue, große Familie bereits getroffen. Und nächstes Jahr in Jerusalem!, ruft Daniel Mann-Segal in den Rathaus-Saal. Die Familie applaudiert, abgemacht.