Feuerwehrbericht

Alle 26 Sekunden ein Notruf: Berliner Feuerwehr kommt immer öfter zu spät

Nie zuvor mussten so oft Rettungswagen ausrücken wie im vergangenen Jahr. Die Einsätze im Rettungsdienst knackten die 500.000er-Marke.

Ein Feuerwehrmann unter Atemschutz bei einem Wohnhausbrand in der vergangenen Woche in der Niebuhrstraße in Berlin-Charlottenburg
Ein Feuerwehrmann unter Atemschutz bei einem Wohnhausbrand in der vergangenen Woche in der Niebuhrstraße in Berlin-CharlottenburgPaul Zinken/dpa

Die Berliner Feuerwehr ist noch nie so oft in Anspruch genommen worden wie im vergangenen Jahr. Insgesamt gingen in der Leitstelle 1.222.955 Notrufe ein. Das ist eine Steigerung um 11,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Alle 26 Sekunden wurde die Notrufnummer gewählt. Aus diesen Notrufen resultierten 528.895 Einsätze.

Diese Zahlen stehen im aktuellen Jahresbericht 2022, den Innensenatorin Iris Spranger (SPD) und Feuerwehrchef Karsten Homrighausen am Montag vorstellten.

Am meisten belastet ist dem Bericht zufolge der Rettungsdienst der Feuerwehr, der den größten Teil der Einsätze betraf – nämlich 509.536 Alarmierungen, was einen Anstieg um 7,4 Prozent bedeutet. Wenn auch nicht jeder Alarmanruf zu einer Rettungsfahrt führt, stellen die 451.487 Einsätze eine deutliche Steigerung dar.

Das ist ein neuer Höchststand beim Rettungsdienst, erstmals wurde die 500.000er-Marke überschritten. Im vergangenen und auch in diesem Jahr wieder herrscht im Rettungsdienst fast täglich, und teils mehrmals am Tag, Ausnahmezustand, weil zu wenige Rettungswagen (RTW) besetzt sind. Gründe sind aus Sicht der Feuerwehr die älter werdende Gesellschaft mit mehr kranken Menschen, aber auch die oft unnötige Alarmierung über den Notruf 112, obwohl es nur um kleine Verletzungen oder Krankheiten geht.

Entsprechend lange dauert es mitunter, bis in Berlin bei einem medizinischen Notfall, wie etwa Herzinfarkt oder Schlaganfall, Hilfe durch die Feuerwehr zur Stelle ist. Das politisch vereinbarte Schutzziel lautet, dass innerhalb von zehn Minuten Hilfe da sein soll. Dies soll zu 90 Prozent erreicht werden. Tatsächlich wurde die vorgegebene Zeit im vergangenen Jahr nur in 44,8 Prozent der Fälle eingehalten. Das ist eine Verschlechterung von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Ein Rettungswagen der Feuerwehr in Berlin im Einsatz
Ein Rettungswagen der Feuerwehr in Berlin im EinsatzFrank Sorge/imago

Steigende Einsatzzahlen, fehlende Standorte in der Stadt, fehlendes Personal

Bei der Brandbekämpfung wurden in der Innenstadt die vorgegebenen Eintreffzeiten zu 82,3 Prozent eingehalten. Das ist eine Verschlechterung um 5,2 Prozent. In den Randbezirken, wo für die vorgegebenen Eintreffzeiten lediglich ein Erreichungsgrad von 50 Prozent vorgegeben ist, wurde das Schutzziel zu 53 Prozent erreicht. Allerdings konstatiert der Bericht hier sogar eine Verschlechterung um 12,1 Prozent.

Auch wenn es brennt, dauert es also länger, bis die Feuerwehr kommt. Feuerwehrleute wundern sich nicht darüber, dass sich auch die Situation bei der Brandbekämpfung von Jahr zu Jahr verschlechtert. So seien Löschzüge längst nicht mehr voll besetzt, weil das Personal von den Löschautos wegen chronischer Unterbesetzung im Rettungsdienst auf RTW umsteigen muss. Löschfahrzeuge würden ausgeschlachtet zugunsten des Rettungsdienstes.

„Wenn wir schon für 2021 gesagt haben, dass wir an unserer Belastungsgrenze sind, dann müssen wir sagen, dass wir 2022 darüber hinausgegangen sind“, sagte Karsten Homrighausen. Zu der erneuten Verschlechterung der Hilfsfristen sagte der Feuerwehrchef: „Wir sind damit nicht zufrieden und wollen das nachhaltig ändern.“

Im offiziellen Jahresbericht heißt es: „Gründe für die Verfehlungen der Schutzziele sind: steigende Einsatzzahlen, fehlende Standorte im Stadtgebiet, Mehrbedarf der Einsatzmittel sowie die angespannte Personalsituation bei der Berliner Feuerwehr sowie bei Partnern im Rettungsdienst.“

Ohne die Partner im Rettungsdienst würde es in Berlin allerdings noch schlechter aussehen. Die Hilfsorganisationen Arbeiter-Samariter-Bund, DRK, Malteser und Johanniter sowie die ADAC-Luftrettung, DRF-Luftrettung und das Bundeswehrkrankenhaus nahmen der Feuerwehr rund ein Drittel der Einsätze zur „Medizinischen Gefahrenabwehr“ ab, nämlich 148.688 aller Alarmierungen. Doch auch bei den Hilfsorganisationen fallen wegen Personalmangels fast täglich mehrere Rettungswagen aus.

Bei den Orkanen Ylenia und Zeynep musste die Feuerwehr an zwei Tagen etliche umgestürzte Bäume beseitigen.
Bei den Orkanen Ylenia und Zeynep musste die Feuerwehr an zwei Tagen etliche umgestürzte Bäume beseitigen.Morris Pudwell

27 Tage Löscheinsatz im Grunewald

Auch auf den Gebieten Brandbekämpfung und technische Hilfeleistung gab es für die Feuerwehr im vergangenen Jahr an einigen Tagen ziemlich viel zu tun. Als die Orkane „Ylenia“ und „Zeynep“ im Februar über Deutschland hinwegfegten, hatte die Berliner Feuerwehr ihre zwei einsatzstärksten Tage hintereinander seit der Gründung 1851. Sie musste zu 3813 wetterbedingten Einsätzen fahren und vor allem umgestürzte Bäume auf Bahnstrecken, Häusern und Autos beseitigen.

Den längsten und „einsatzmittelstärksten“ Einsatz hatte die Berliner Feuerwehr im August, als vom Sprengplatz Grunewald ein Großbrand ausging. Etwa 260 Hektar Wald standen in Flammen. Der Einsatz zog sich inklusive Nachkontrollen über 662 Stunden hin – vom 4. bis zum 31. August. 716 Feuerwehrleute waren eingesetzt.

Dem chronischen Personalmangel wollen der Senat und die Behördenleitung durch Neueinstellungen beikommen, die auch die Pensionierungen abfedern. Laut Jahresbericht hat sich die Einstellungsquote in den vergangenen zehn Jahren fast vervierfacht. „Wir haben viele Steine umgedreht, um die besten Lösungen zu erarbeiten“, so Homrighausen. Unter anderem wurden nach seinen Worten über 130 Codes, nach denen RTW und Notarzt geschickt werden, geändert. Das heißt: Anrufer mit vergleichsweise milden Symptomen wie Bauchschmerzen werden per Knopfdruck direkt an die Kassenärztliche Vereinigung (KV) und deren telefonische Beratung weitergeleitet.

4.8.2022, Luftaufnahme vom Waldbrand beim Sprengplatz beim Kronprinzessinnenweg in Nikolassee im Grunewald
4.8.2022, Luftaufnahme vom Waldbrand beim Sprengplatz beim Kronprinzessinnenweg in Nikolassee im GrunewaldChristian Ender/imago

Feuerwehrchef: Mit 67 Stellen kann man keine Ausbildungsoffensive fortsetzen

Geht es nach dem Willen von Innensenatorin Spranger und Feuerwehrchef Homrighausen, dann sollen im Rahmen einer Ausbildungsoffensive 500 Nachwuchskräfte ausgebildet werden. Der Landesrechnungshof empfahl nach einer Auswertung der Jahre 2018 bis 2020 mindestens 1000 zusätzliche Stellen. Die Feuerwehr hat für die Jahre 2024 und 2025 insgesamt 733 neue Stellen bei der Senatsverwaltung für Finanzen angemeldet. Diese bewilligte für die zwei Jahre aber nur 67 Stellen. „Mit 67 Stellen kann ich die Ausbildungsoffensive nicht fortsetzen“, sagt Homrighausen.

Iris Spranger dazu: „Wir haben Abgänge und Pensionierungen und dadurch frei werdende Stellen zu besetzen.“ Aber Gesetzgeber sei das Parlament, so Spranger, die nach eigenen Worten „in engem Austausch“ ist, um noch weitere Stellen zu bekommen.

Der Jahresbericht 2022 zeige deutlich das, was man schon ahnte, befindet Lars Wieg, Vorsitzender der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft Berlin-Brandenburg. Noch nicht einmal zu 50 Prozent habe das Schutzziel für die Berlinerinnen und Berliner erreicht werden können. „Der bestehende Personalmangel und die als unzuverlässig zu bewertende Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen und der KV treibt uns weiterhin fast jeden Tag in den Ausnahmezustand Rettungsdienst“, so Wieg. Die Brandbekämpfung liege brach wie nie zuvor.

„Die ersten kleinen Weichenstellungen sind erfolgt, aber die umfassende Novellierung des Rettungsdienstgesetzes ist nach wie vor bitter nötig, wenn wir uns bei der Brandbekämpfung nicht ständig nackig machen wollen“, sagt Brandoberinspektor Oliver Mertens von der Gewerkschaft der Polizei. Dazu gehöre es, die Notfallrettung auf ihre ureigene Aufgabe zurückzubringen und andere Institutionen wie private Krankentransporteure sowie die KV mehr in die Pflicht zu nehmen und weiter daran zu arbeiten, die Selbsthilfefähigkeit in der Bevölkerung zu stärken.

Der Innenexperte der AfD-Hauptstadtfraktion, Karsten Woldeit, erklärte: Die Überlastung der Feuerwehr werde zum Dauerzustand. „Der Senat demotiviert so die Feuerwehrleute, die erleben müssen, wie wenig der Landesregierung ihre gefährliche Arbeit wert ist. Und er gefährdet die Sicherheit der Berliner in Notfällen.“