Berlin-Mit der Bahn auf die Ostseeinsel Usedom? Das ist möglich, ist aber mit einem Umweg und Umsteigen verbunden. Dabei gibt es eine kürzere Trasse, die Zeit spart, aber seit langem brach liegt. Jetzt gibt es einen neuen Anlauf, die direkte Verbindung zur Badewanne Berlins wiederzubeleben. Die Deutsche Bahn hat im Auftrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern damit begonnen, die Grundlagenplanung zu erarbeiten. „Ziel ist, dass die Bauarbeiten noch in diesem Jahrzehnt beginnen“, sagte Infrastrukturminister Christian Pegel (SPD) der Berliner Zeitung. Die Reisezeit von Berlin nach Usedom soll auf rund zwei Stunden schrumpfen. Am Sonnabend bekräftigte die Berliner SPD ihre Unterstützung. Sie organisierte eine Sonderfahrt mit Experten und Politikern auf die Insel. Doch die Hürden für das Projekt bleiben hoch.
„76 Jahre rostet sie schon vor sich hin“, sagt der Mann mit der Elbseglermütze und dem norddeutschen Akzent. Günther Jikeli, Vorsitzender der Usedomer Eisenbahnfreunde, steht mit den Gästen aus Berlin am Ufer des Peenestroms. Vor ihnen erhebt sich eine düster wirkende Konstruktion aus genietetem Stahl 35 Meter hoch aus der Meerenge.

Mit Tempo 100 von der Invalidenstraße an den Ostseestrand
Der Turm bei Karnin, dessen Besteigung Menschen mit Höhenangst nicht empfohlen wird, war einst eine Hubbrücke. Hier fuhren Dampfzüge mit Tempo 100 nach Swinemünde, Ahlbeck und Heringsdorf. In rund drei Stunden konnte man vom Stettiner Bahnhof, der an der Invalidenstraße lag, an den Strand reisen. Am Wochenende gab es zusätzliche Fahrten, mit denen Männer ihren Familien in den Urlaub nachreisten.
Doch auch die Strohwitwerzüge sind Vergangenheit. Am 29. April 1945 sprengten deutsche Soldaten den größten Teil des Peeneübergangs. Später verlor die 38 Kilometer lange Strecke, die in Ducherow nach Swinemünde (heute Świnoujście) abzweigte, auch noch ihre Schienen. Zu DDR-Zeiten gab es mehrere vergebliche Anläufe, die Verbindung wieder aufzubauen. Heute gibt es zwar viel mehr Zugverbindungen nach Usedom als früher. Aber das Seebad Ahlbeck liegt nun vier Stunden Bahnreise von Berlin entfernt, und jeder Usedom-Fahrer muss umsteigen. Es ginge schneller – viel schneller.
76 Jahre - so alt ist auch Günther Jikeli. Er ist in der Stadt Usedom geboren. Später zog die Familie, die dort eine Gärtnerei hatte, in den Westen. 2010 kehrte der Chemiker aus Köln in die Heimat zurück. „Die Bahn wurde nie entwidmet“, sagt der Sozialdemokrat. Große Teile des Dammes blieben erhalten. „Selbst der Bahnhof der Stadt Usedom steht noch. Wir wollen, dass hier wieder Züge verkehren. Die Insel ertrinkt im Autoverkehr.“
Minister: „Das Land geht in Vorleistung“
Gut, dass 1990 zwölf Turmfalkenpaare auf der Hubbrücke nisteten! Sie lieferten den Insulanern weitere Argumente, um zumindest verhindern zu können, dass das Stahlgerüst abgerissen und unter Denkmalschutz gestellt wird. Doch der Kampf darum, dass die Strecke 6768 von Ducherow nach Swinemünde wiederaufgebaut und elektrifiziert wird, war bisher vergeblich. Schätzungen gingen von 110 Millionen, zuletzt von 150 Millionen Euro aus, allerdings dürften sie von der Realität überholt worden sein.
Zwar ergab ein Gutachten von DB International, dass sich der Nutzen auf das 2,6-Fache der Kosten summieren würde. Doch der Bund hält das Vorhaben für unwirtschaftlich. Weil es nur regional bedeutend sei, kam es zudem nicht in den Bundesverkehrswegeplan. Anderswo gebe es dringendere Bahnprojekte, sagen Experten. Auch im Bundestag gibt es Gegenwind - unter anderem von Eckhardt Rehberg, CDU-Haushaltspolitiker aus Mecklenburg-Vorpommern, wie Jikeli berichtet. „Er ist der Hauptwidersacher.“

Anfangs fühlte sich der Usedomer auch vom Land nicht immer unterstützt. „Richten Sie Klaus Wowereit einen Gruß von uns aus“, bat Jikeli am Sonnabend die Berliner. Denn seitdem der Regierende Bürgermeister den Verantwortlichen 2010 bei einer Konferenz „in den Hintern“ getreten habe, zeige die Regierung in Schwerin mehr Engagement.
„Kaum noch zu beherrschende Autokolonnen auf der Insel“
„Das Land geht in Vorleistung“, bekräftigte Minister Pegel. Im Doppelhaushalt 2020/21 wurden 2,8 Millionen Euro für die Grundlagenplanung gebilligt. Im vergangenen Dezember machte sich tatsächlich ein siebenköpfiges Ingenieurteam ans Werk. „Wir wollen nachweisen, was die Wiedererrichtung der Strecke kosten und bringen würde“, so Pegel. „Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Nutzen-Kosten-Rechnung präsentieren können, die eine Finanzierung durch den Bund rechtfertigt.“ Spätestens Ende 2022 sollen die Ergebnisse vorliegen. Mitte der 2020er-Jahre könnte dann Klarheit darüber bestehen, dass die Fernverkehrsstrecke wiedererrichtet wird, hofft der SPD-Politiker.
Pegel ist davon überzeugt, das dies sinnvoll sei - „wie eine große Mehrheit der Menschen bei uns im Land“. „Usedom ist eine unserer beliebtesten Urlaubsdestinationen. Mit der unerwünschten Nebenwirkung, dass die Insel in der Hochsaison regelmäßig von kaum noch zu beherrschenden Autokolonnen durchzogen wird, die Stau, Lärm, Abgase und Parkplatzmangel erzeugen. Die reaktivierte Bahnstrecke ist eine dringend benötigte Alternative für An- und Abreise auf die und von der Insel“, sagt der Minister.
„Doch die Bürger sind weiterhin gefragt“, stellt Günther Jikeli fest. Es müsse weiter Druck gemacht werden, denn der Bund sei skeptisch geblieben. „Im April 2022 werden wir mit einem Sonderzug nach Berlin kommen. So viele Usedomer auf einmal hat die Hauptstadt nicht gesehen.“
Anwohner kritisieren das Projekt – und verweisen auf Alternativen
Allerdings gibt es auch Kritik an dem Wiederaufbauplan. Sie kommt von Insulanern, aber auch von Menschen, die an der Trasse ihr Wochenendgrundstück haben. Karnin 21: So heißt die Bürgerinitiative - die Analogie zu Stuttgart 21 ist beabsichtigt. „Bei allen Diskussionen fällt nie ein Wort über die Bahnstrecke über Stettin nach Swinemünde“, sagt Sven Krein aus Velten, der oft auf der Insel ist. Mit dem Fernverkehr ließe sich die Hafenstadt, die zum Teil auf Usedom liegt, in Zukunft schnell von Berlin erreichen.
„Nun noch eine weitere Usedom-Anbindung für einen deutlich dreistelligen Millionenbetrag zu realisieren, halte ich für nicht zielführend“ – zudem der Inselnorden mit Seebädern wie Zinnowitz nicht profitieren würde. „Lieber sollte man die Strecke der Usedomer Bäderbahn weiter zweigleisig ausbauen“, so Krein. „Dann könnten auch Schnellläuferzüge eingesetzt werden, die nicht an jeder Milchkanne halten müssen.“
„Ich habe Verständnis dafür, dass direkte Anwohner in Sorge etwa um eventuelle Lärmbelästigungen sind“, entgegnete Minister Pegel. „Solche Maßnahmen werden nur umgesetzt, wenn das Allgemeininteresse gegenläufige Einzelinteressen von Wenigen deutlich überwiegt.“ Günther Jikeli formuliert es so: „Die Leute wussten, dass die Strecke nicht entwidmet worden ist.“

„Wir unterstützen die Initiative zum Wiederaufbau der Karniner Eisenbahnbrücke, damit Swinemünde und die Kaiserbäder auf Usedom schneller von Berlin zu erreichen sind“, sagte Jürgen Murach vom Fachausschuss Mobilität der SPD Berlin. Während der Sonderfahrt nach Usedom ging es auch um andere Themen - etwa um den Kulturzug von Berlin nach Breslau (Wrocław), der ab Ende 2022 täglich fahren sollte. Oder um die Idee, eine Regionalexpresslinie vom Flughafen BER über Berlin, Stettin (Szczecin) und Misdroy (Międzyzdroje) nach Swinemünde einzurichten. Damit könnten die Berliner bequem nach Schweden reisen, so Murach. Der Terminal, an dem außer den Schiffen nach Ystad und Trelleborg auch Fähren nach Bornholm anlegen, liegt an der Endstation.
Berlins SPD wirbt im „Oder-Partnerschafts-Express“ für neuen Bahnkorridor
„Der Bund muss endlich Verantwortung übernehmen“, forderte der SPD-Abgeordnete Sven Heinemann am Sonnabend. Auch 32 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges entspräche die Qualität der Bahnverbindungen nach Polen weiterhin nicht europäischen Standards. Das erlebten die Fahrgäste der SPD-Sonderfahrt. Der Dieseltriebwagen musste mit weniger als 50 Kilometer pro Stunde durch die Uckermark zuckeln, weil die Stettiner Bahn über mehr als zehn Kilometer hinweg auf moorigem Grund verläuft.
Immerhin: Im Spätherbst soll damit begonnen werden, die Strecke Angermünde - Stettin zweigleisig und für Tempo 160 auszubauen sowie zu elektrifizieren. Dafür wird sie 16 Monate gesperrt. Jahrelang hatten Berlin und Brandenburg versucht, den Bund für das Projekt zu gewinnen. Erst als die Länder versprachen, sich mit 100 Millionen Euro zu beteiligen und überdies 46 Zugfahrten pro Tag zu bestellen, hatten sie Erfolg.
Bis tatsächlich schnelle Züge die beiden Städte in 90 Minuten verbinden, müssen die Verantwortlichen allerdings noch einige weitere Probleme lösen. So werden spezielle Fahrzeuge benötigt, die mit den unterschiedlichen deutschen und polnischen Strom- und Signalsystemen zurechtkommen. Zudem müssen sich die deutsche und die polnische Seite noch zu wichtigen organisatorischen und finanziellen Fragen absprechen. Zum Beispiel: Wer bezahlt den Betrieb der künftigen Regionalzüge?




