Letzte Generation

Aktivistin Lina E.: „Egal was passiert, ich würde niemals zurückschlagen“

Lina E. muss wegen zehn Klebeblockaden vor Gericht. Sie klebte sich auch an einem Bild in der Berliner Gemäldegalerie fest. Es wird für alle: ein sehr langer Tag.

Lina E. klebte sich am Holzrahmen des Gemäldes „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ fest.
Lina E. klebte sich am Holzrahmen des Gemäldes „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ fest.Letzte Generation

Es ist kurz nach 13 Uhr, alle im stickigen Saal B143 wirken etwas müde, die Verhandlung im Amtsgericht Tiergarten dauert schon fast vier Stunden. Der Zeuge, der als Nächster befragt werden soll, ist noch nicht da, das nächste Video (Dauer: 37 Minuten) soll gleich abgespielt werden, doch die Technik versagt für einen Moment. Alle im Saal werden abermals hinausgeschickt, damit sich die Richterin mit der Staatsanwältin und dem Strafverteidiger beraten kann. Als die Tür sich wieder öffnet, heißt es: „Bis 14 Uhr erst mal Pause machen.“ Sie bittet noch darum, dass alle Fenster geöffnet werden. 

Die Liste an Sachverhalten, für die Lina E. heute vor Gericht steht, ist lang. So lang, dass der Prozess von 9.15 Uhr bis in den späten Nachmittag hinein dauert. Die Staatsanwältin trägt diese Liste am Anfang einmal komplett vor: Eine Klebeblockade nach der anderen wird verlesen, mit Datum, Ort, Dauer. Allen Zuhörern wird klar: E. hatte sich im Jahr 2022 an zahlreichen Autobahnauffahrten und Straßenkreuzungen festgeklebt.

Eine Aktion sticht unter den Straßenblockaden heraus: Statt wie gewohnt auf den Asphalt, klebte sich E. im August letzten Jahres an einen Bilderrahmen. Bei dem Gemälde „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ handelt es sich um ein Werk des berühmten Renaissance-Malers Lucas Cranach des Älteren. Der historisch geschnitzte Holzrahmen mit Gold- und Platin-Naht wurde bei der Entfernung des Sekundenklebers mit Aceton beschädigt.

Lina E.: Von Pappschilder-Hochhalten in den Hungerstreik

„Ich will euch erklären, wie ich zu der Person wurde, die ich jetzt bin.“ So beginnt Lina E. eine Rede, die sie zu ihrer Verteidigung vor Gericht hält. „Wie ich von einer engagierten Jugendlichen, die sich nie hätte vorstellen können, vor Gericht zu landen, an diesen Punkt kam.“

Sie erzählt von ihren Anfängen, wie sie mit einem Pappschild am Straßenstand einer Tierschutzgruppe auf das Schreddern von Küken aufmerksam machte. Von ihrer Frustration über das Desinteresse der Vorbeigehenden und ihrer Eingebung, stören zu müssen, um Aufmerksamkeit zu generieren. So schloss sie sich zuerst Extinction Rebellion an und gründete dann mit einigen anderen die Protestbewegung Letzte Generation. 

Für Lina E. ist Störung der einzige Weg, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. 
Für Lina E. ist Störung der einzige Weg, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Letzte Generation

Im Jahr 2021 machte sie 20 Tage lang bei dem Hungerstreik vor dem Bundestag mit, bis sie zusammenbrach und in die Charité eingeliefert werden musste. Ihr Freund Henning Jeschke, der heute zusammen mit Carla Hinrichs im Publikum sitzt, nahm ganze 27 Tage lang keine feste Nahrung zu sich und verweigerte am Ende auch die Aufnahme von Flüssigkeit. 

Mittlerweile hat die 20-Jährige die Schule abgebrochen, und das, obwohl sie kurz vor dem Abitur stand. „Für welche Zukunft soll ich lernen?“, fragt sie in den Gerichtssaal hinein und warnt vor bald in Deutschland bevorstehenden Missernten. 

Jede Klebeaktion ist anders. Deswegen müssen bei jedem Einzelereignis Zeugen befragt, Videoaufnahmen geprüft und die konkreten Vorwürfe durchgegangen werden. Mal ist der Vorwurf Nötigung, mal Widerstand gegen Polizeibeamte. Den Vorwurf, Gewalt gegenüber Polizisten angewendet zu haben, weist E. klar zurück: „Es ist mir total wichtig, friedlich und gewaltfrei zu protestieren“, sagt sie und berichtet, dass Polizeibeamte sie hingegen schon ins Gesicht geschlagen hätten. „Egal was mir widerfährt, ich würde niemals zurückschlagen.“

Über 2000 Euro Schaden am Cranach-Gemälde

Die Polizistinnen und Polizisten, die als Zeugen vor Ort geladen sind, können nicht bestätigen, dass E. gewalttätig geworden sein soll. Sie habe höchstens sie selbst oder Kollegen weggeschoben, als man versucht habe, sie von der Straße zu lösen. Eine Autofahrerin, die von ihrer Erfahrung im Stau erzählt, möchte am Ende noch etwas loswerden: „Ich finde es sehr schade, dass wir Bürger durch Proteste Nachtteile erfahren.“ Sie habe wegen Lina E. 45 Minuten im Stau gestanden. Als sie den Saal verlässt, sagt sie in Richtung der Aktivistin: „Ich würde auch gerne fürs Klima demonstrieren, möchte aber nicht da mit hineingerissen werden.“

Babette H. ist Chefrestauratorin der Gemäldegalerie und sichtlich genervt, als sie sich auf der Zeugenbank niederlässt. Sie hat das Gutachten für den Schaden am Rahmen des Cranach-Gemäldes erstellt. Die Summe beträgt rund 2385 Euro. „Wir waren aber sehr gutwillig“, sagt die 64-Jährige und klagt über den großen Aufwand, den nun noch der gesamte Prozess ihr beschere.

Auch das Gemälde sei nach dem Ankleben untersucht und dabei sei eine kleine beschädigte Stelle entdeckt worden. Ob sie von Lina E. stammt, sei aber unklar. „Fakt ist, dass solche Gemälde von der kleinsten Erschütterung beschädigt werden können“, sagt sie. „So ein Bild würden wir deswegen zum Beispiel nie auf Reisen schicken.“ Zur Begutachtung und Restauration musste es aus dem Rahmen genommen werden. Der Rahmen stammt laut Babette H. vermutlich aus dem 16. Jahrhundert und ist schätzungsweise 20.000 Euro wert.

Lina E. ist sich des Missmutes der Betroffenen, seien es Autofahrer oder Restauratorinnen, bewusst. „Natürlich möchte ich mit meinen Blockaden stören“, sagt sie. Das sei notwendig, damit der Klimanotstand endlich anerkannt und von der Regierung dementsprechend gehandelt werden würde. „Wir sind der Alarm.“

Erst gegen 17 Uhr wird das Ergebnis des langen Prozesstages mitgeteilt: Von den zehn Verfahren, die verhandelt wurden, wurden drei eingestellt. Das Urteil über die sieben weiteren stünde noch aus, weil die Richterin sich über das Abschlussplädoyer des Anwalts der Aktivistin noch einmal Gedanken machen wolle. Darin hat er einen Hilfsbeweisantrag gestellt, dass der zivile Ungehorsam von Lina E. juristisch gerechtfertigt sei und ein Sachverständiger das überprüfen solle.

Der Vorschlag der Staatsanwaltschaft für ein Urteil steht allerdings schon: 200 Tagessätze à 15 Euro seien eine angemessene Strafe. Lina E. sieht das anders. „Wir setzen auf Freispruch“, sagt sie der Berliner Zeitung. Die Begründung dafür habe ihr Anwalt auch juristisch gut auf den Punkt gebracht: „Das was wir machen, ist auf keinen Fall strafbar, sondern gerechtfertigt.“