Ein Handwerker mit weißer Arbeitshose steht am Mittwoch auf dem Gehsteig des Brunnsbütteler Damms in Spandau. Er tunkt einen Pinsel in den Lack und streicht über die Fensterrahmen. An der Hausfassade sind Risse zu sehen und die Farbe blättert nicht nur an den Fensterrahmen ab.
In diesem Haus hat sich einen Tag zuvor ein 62-jähriger Mann das Leben genommen, als die Gerichtsvollzieherin kam, um seine Wohnung zu räumen. Normalerweise berichtet auch die Berliner Zeitung nicht über Selbstmorde, aber dieser Fall wurde zu einer Nachricht, weil sie einen Polizeieinsatz nach sich zog. 150 Beamte waren bei dem Einsatz. Es war die erste Meldung in den Abendnachrichten.
Demnach sollte der Mann aus der Wohnung zwangsgeräumt werden, er weigerte sich aber beharrlich, die Wohnung zu verlassen und drohte mit Gewalt. Er habe mehrmals von innen auf die Wohnungstür geschossen, verletzt wurde dabei niemand. Schließlich habe er die Waffe gegen sich gerichtet.
Der Maler weiß nichts Genaues zu diesem Fall, aber er hat mitbekommen, dass die ganze Straße gesperrt war. Die Menschen konnten bis zum Abend nicht in ihre Wohnungen zurück. „Wir wurden nach ganz hinten verfrachtet“, sagt der Maler und deutet mit der Hand die Straße hinunter.
Den 62-Jährigen kannte er nicht, auch in den benachbarten Läden, vor dem Jobcenter und an der Bushaltestelle kannte niemand diesen Nachbarn, dem die Räumung drohte. Ein Barbier schaut nur kurz auf von seiner Arbeit und sagt: „Ich konnte nicht zurück in meinen Laden.“ Dann rasiert er weiter den Kopf seines Kunden.
Im Jahr 2021 sind laut Medienberichten mehr als 29.000 Wohnungen in Deutschland zwangsgeräumt worden, 1668 davon in Berlin. Mehr als viermal am Tag verschafft sich irgendwo in Berlin ein Gerichtsvollzieher Zugang zu einer Wohnung. Das Mietverhältnis gilt dann längst als beendet, alle Rechtsmittel sollten ausgeschöpft sein. Die Räumung steht meist am Ende eines langen Kampfes auf beiden Seiten – und sie wir nicht immer durchgeführt: 16.000 Räumungen werden zwar angeordnet, aber nicht durchgesetzt.
Der Sprecher des Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ sagt, dass ihm Zahlen zu 20 Räumungen pro Tag in Berlin vorliegen – das habe sich in den letzten Jahren kaum geändert. Seinen Namen will er nicht nennen, wegen seines Engagements sei er „im Fadenkreuz der Repressionsorgane“. Das Bündnis aus Betroffenen und Aktivisten bietet Beratung vor einer Zwangsräumung an, empfiehlt Anwälte und versucht manchmal auch zwischen Mieter und Vermieter zu vermitteln.
UN-Sozialpakt: Wohnen ist ein Menschenrecht
Selbstmorde wegen Zwangsräumungen kämen immer wieder vor, sagt der Sprecher. „Die Leute, die zu uns kommen, sind in einer Extremsituation.“ Den Fall in Spandau habe er vorher „nicht auf dem Schirm“ gehabt. „Wir erinnern uns jetzt an die Fälle, in die wir direkt involviert waren“, sagt er. Zum Beispiel an einen Schlagzeuger aus Kreuzberg, die Eigentümerin wohnte im gleichen Haus. „Er war suizidgefährdet und das war auch dem Gericht bekannt“, sagt er. „Das wird häufig nicht ernst genommen.“ Gerade ältere Leute führten normalerweise ein ruhiges Leben in gewohnter Umgebung. Sie würden sich im Falle einer Zwangsräumung in einer Situation wiederfinden, in der sie keinen Ausweg mehr sehen würden, sagt der Sprecher.
Wohnen ist ein Menschenrecht – laut Artikel 11 des UN-Sozialpaktes hat jeder Mensch das Recht auf angemessenen Wohnraum. Versuche von Parteien, dieses Recht im Grundgesetz aufzunehmen, scheiterten. In Deutschland unterstütze der Sozialstaat Menschen, die ihre Wohnung nicht bezahlen können, so die Annahme. Manche Menschen sind psychisch nicht in der Lage, Sozialhilfe zu beantragen, manchmal reicht aber auch das Geld vom Amt nicht.
„Die Angebote im Sozialstaat sind nicht geeignet, die Situation zu lösen“, sagt der Sprecher. Die Liste der zumutbaren Miete vom Jobcenter stimme seit Jahren nicht mit der Praxis überein. Sozialhilfeempfänger geben deshalb ihr Geld für Wohnen statt Essen aus, und irgendwann seien Mietrückstände die Konsequenz. Ein anderer Grund für Zwangsräumungen sind Eigenbedarfskündigungen.
„Die Politik in Berlin hat Spekulanten und Vermietern alle Türen offen gehalten“, sagt der Sprecher des Bündnisses „Zwangsräumung verhindern“ und meint damit nicht nur die Wohnungsverkäufe an große Konzerne in der Vergangenheit. Ein Problem sei, dass immer mehr einzelne Wohnungen verkauft würden statt ganze Häuser. Besitzer, die ihr Geld in mehreren Wohnungen anlegen, würden die Gewinnmaximierung durch „eine Masse an Eigenbedarfskündigungen“ durchsetzen, die Konsequenzen bei einem Betrug seien zu gering. Die Eigenbedarfskündigungen hätten in den letzten zwei Jahren in Berlin stark zugenommen.
„Dass zu wenig gebaut wird, ist Quatsch“, sagt er. „In Berlin wird dauernd gebaut: Bürohäuser und Luxuswohnungen.“ Bezahlbare Wohnung dagegen „überhaupt nicht“. Das Bündnis fordert von der Politik, dass keine Abrissgenehmigungen erteilt werden, um hochpreisige Gebäude zu bauen. Die Gesetze zu Leerstand müssten angewandt werden.
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de
Kinder- und Jugendtelefon: Das Angebot des Vereins Nummer gegen Kummer richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis sonnabends von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Sonnabend nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de.
Muslimisches Seelsorge-Telefon: Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch Türkisch. mutes.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de




