Polizeieinsatz

Raubtier-Suche in Kleinmachnow: „Haben Sie den Löwen schon angefahren?“

Die Menschen auf dem Marktplatz in Brandenburg scheinen gelassen, in den Wald geht aber kaum jemand. Dort könnte ja das Raubtier lauern. Reportage aus Kleinmachnow.

Die Polizei in Kleinmachnow ist schwer bewaffnet. Für den Fall, dass das Raubtier auftaucht.
Die Polizei in Kleinmachnow ist schwer bewaffnet. Für den Fall, dass das Raubtier auftaucht.Volkmar Otto

Ein Hubschrauber kreist über dem Wald in Kleinmachnow. Die Geräusche der Rotorenblätter werden erst lauter und lauter und dann plötzlich ganz schnell wieder so leise, dass die Vögel zu hören sind. Am Wegesrand steht ein Schild, wie eine Warnung: „Waldgebiet, betreten auf eigene Gefahr“. Dieser Hinweis steht schon seit Jahren hier, aber er bekommt heute eine neue Bedeutung: Hier in Kleinmachnow, am Stadtrand von Berlin, soll eine Löwin gesichtet worden sein.

Eine der zwei Videoaufnahmen, die diesen Aufruhr verursachen, zeigt ein Tier, das ein Wildschwein jagt. Die Polizei sagt, es handle sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Löwin. Noch in der Nacht habe auch die Polizei das Tier in derselben Gegend beim Richard-Strauss-Weg gesichtet. Woher die Löwin stammen soll, ist unbekannt: Kein Zoo oder Zirkus vermisst sie. Die Einsatzkräfte suchen mithilfe von Hubschraubern, Wärmebildkameras und Drohnen nach dem Tier.

Auf dem Rathausplatz in Kleinmachnow laufen die Menschen am Vormittag eher gelassen die Straße entlang. Sie schlendern, ältere Leute sind mit Rollatoren unterwegs, auf die sie ihre Einkaufstaschen stellen. Zwei Männer sitzen an einem Tisch und unterhalten sich, ein anderer stöbert an der Kleiderstange vor einem Geschäft. Die Löwin ist trotzdem Gesprächsthema Nummer eins, die meisten schmunzeln dabei. Sie könnte ja theoretisch jederzeit um die Ecke schleichen.

„Ich würde mich ja auf den Rücken legen“, sagt die 76-jährige Gabriele Karla. „Dann weiß die Löwin sofort: Ich bin unterlegen.“ Der Bürgermeister sagt auf der Pressekonferenz, er habe die Händler gebeten, ihre Stände zu verkleinern oder gar nicht zu kommen. Ein Marktbetreiber nickt. Es seien viel weniger Kunden dagewesen. „Mediale Panikmache“ nennt er das. Angst habe er „nicht ansatzweise“ und „zur Not einen Knüppel hier“, sagt er und deutet unter einen seiner Tische, auf dem sich das Gemüse stapelt. Eine ältere Dame an einem anderen Marktstand lächelt breit und meint, es könne auch ein Waschbär sein. Ihr Sohn habe aus Paris angerufen und sie gebeten, drinnen zu bleiben. „Ich glaube ja, es ist ein großes Sommerloch“, sagt sie.

Es sind oft Tiere, die das „Sommerloch“ stopfen und für gute Klickzahlen sorgen. Der entlaufene Kaiman „Sammy“ machte einen ganzen Sommer lang Schlagzeilen, seitdem gibt es immer wieder Berichte über verschwundene Krokodile. Braunbär „Bruno“ wanderte 2006 aus Tirol zu. Und Känguru „Skippy“ hüpfte 2015 durchs Sauerland, bis heute ist unklar, woher es eigentlich kam. Zoodirektor Michel Rogall wies unterdessen darauf hin, dass er glaubt, es handle sich bei der angeblichen Löwin um einen Kaukasischen Schäferhund. Diese große Hunderasse sei schon einmal mit einer Löwin verwechselt worden.

Es knackt im Gebüsch – ist das etwa die Löwin?

Richtung Machnower See am Waldrand wird es ruhiger. Kaum jemand ist zu Fuß unterwegs. Die einzigen drei Menschen, die hier entlanglaufen, sprechen kein Deutsch – vielleicht wissen sie deshalb gar nichts von der Löwin? Vor den Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten in der Karl-Marx-Straße ist das Rauschen eines Rasensprengers zu hören, in der Kfz-Werkstatt nebenan streichen Handwerker ein Boot. Dann kommt die Abzweigung auf den Waldweg. Auf geht’s also, die Löwin suchen. Ein Mann im Auto dreht sich ungläubig um.

Der Wald hat einen süßlichen Duft. Wahrscheinlich ist das der Saft, den die Bäume im Sommer von den Stämmen aus in die Blätter schießen. Plötzlich knackt es im Gebüsch. Nun kommt doch Nervosität auf. Ist das etwa die Löwin? Beruhigend ist der Gedanke, dass die Großstadt doch eigentlich viel bedrohlicher ist als es dieser wunderschöne Wald mit einer potenziellen Löwin darin jemals sein könnte. Dort gibt es stattdessen potenzielle Vergewaltiger, die in Sexclubs gehen, Säureangriffe aus dem Nichts und geliebte Menschen, die zu Mördern werden. 

Viele Kleinmachnower nutzen die Nachrichten für Smalltalk: „Der Löwe hat mein Brot gefressen“, heißt es beim Bäcker. „Haben Sie den Löwen schon angefahren?“, fragt ein Rollstuhlfahrer den Busfahrer. Ein junger Mann telefoniert auf der Fahrt, er ist der Einzige, der wirklich aufgeregt und ängstlich klingt. Die Apfelsaftflasche unter seinem Arm schlackert hin und her als er sagt: „Ich gehe nicht in den Wald“, dann spricht er über seinen Hund, der auch mal raus müsse. Kurz bevor er aussteigt ruft er noch in den Hörer: „Ja, ja, das Stück Steinweg renn ich!“ Dabei sagen doch Löwenexperten, dass Rennen eher keine gute Idee sei. Löwen sind schließlich Raubtiere.