Eine Kastanie fällt von einem Baum und landet neben einem Mädchen. Das Mädchen hebt die stachelige Frucht auf und legt die glatte, hellbraune Kastanie zu den anderen in ihre Tasche. An diesem Nachmittag im Hinterhof in Mitte laufen mehrere Kinder über die Äste eines gefällten Baumes, Holz knackt dabei unter ihren Füßen, das erste Laub raschelt. Hier an der Dresdener Straße ist der Herbst schon angekommen. Neben den vielen Kindern steht auch eine Gruppe von etwa zwei Dutzend Erwachsenen um einen Baum herum, heißer Kaffee wird serviert.
Und um diesen Baum geht es: eine ausladende Eiche, die alles überragt. Sie ist genauso hoch wie der fünfstöckige Altbau daneben, die Sonne scheint durch ihre grünen Blätter, die Enden ihrer Äste wehen im Wind neben den modernen Balkonen, die an das Haus angebaut wurden. Ein idyllischer Anblick. Und dabei ist der Baum mehr als 200 Jahre alt, er stand in dieser Ecke, bevor es alles hier gab. Er hat zwei Weltkriege und die Berliner Mauer überlebt, die einst direkt neben diesem Hof stand.
Aber die Zusammenkunft hat einen ernsten Hintergrund: Es ist eine Bürgerinitiative für diesen Baum. Die Hamburger Immobilienfirma Concept-Immobilien will hier ein neues Wohngebäude bauen. Es handelt sich um ein viergeschossiges Haus, etwa zwölf Meter tief und 25 Meter breit, Platz für zehn Wohnungen. Außerdem soll die 200-jährige Eiche gefällt werden – um Platz für eine 18,78 Meter tiefe Tiefgarage mit Stellplätzen für nur sechs Autos zu schaffen.
Das Bezirksamt Mitte wirkt „wie aus einem Kafka-Roman“
Eine tragische Ironie in Zeiten der angeblichen Berliner Verkehrswende, sagen die Anwohner. Sie bringen ihren Kampf in die Posteingänge und Sprechstunden ihrer Abgeordneten, zu ihren Bezirksstadträten, der Naturschutzbehörde – überallhin, wo sie eine Chance sehen, die lieb gewonnene Eiche zu retten. Aber in Berlin muss gebaut werden: Die Wohnungsnot ist groß, der Senat zielt auf den Bau von 200.000 neuen Wohnungen bis 2030. Dabei komme es manchmal dazu, dass die Natur zugunsten von Neubauten zum Opfer der Berliner Bauordnung wird, sagen mehrere Lokalpolitiker den Anwohnern; es sei leider einfach so. Oder wie die Anwohner der Dresdener Straße die Sache sehen: Der Politik geht es nur um Profit, die Anliegen der normalen Bürger sind einfach egal.
Julian Rosefeldt hat zu dieser Aktion aufgerufen. Der 57-Jährige wohnt in der Dresdener Straße 113, im ersten Stock des Altbaus direkt neben der Eiche, seine drei Kinder sind mit dem Blick auf sie aufgewachsen. „Das ist wirklich wie aus einem Kafka-Roman“, sagt er. „Man setzt eine Unwahrheit in die Welt, dann kommt man nie aus diesem Teufelskreis.“ Sein Vertrauen in die Politik sei durch das Debakel erschüttert worden, sagt er – mehrfache Versuche bei verschiedenen Berliner Behörden und Politikern, die Fällungsgenehmigung aufzuheben, sind bislang erfolglos geblieben. „Es ist wirklich unglaublich, wie die Verantwortung hin- und hergeschoben wird.“
Die Bürgerinitiative gibt es seit mehr als einem Jahr, im Februar dieses Jahres wurde die Baugenehmigung für das Haus und gleichzeitig die Fällungsgenehmigung für den Baum erteilt. Mehrere Appelle sowie Anträge der Initiative an die Behörden in Mitte haben nichts gebracht. Er hat immer wieder den Satz gehört: Baurecht bricht Baumrecht.

Rosefeldt wirft dem Bezirk vor, die Anwohner aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen zu haben. Vor allem enttäuscht ist er von Ephraim Gothe (SPD), dem stellvertretenden Bezirksbürgermeister und Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung und Facility Management, der auf Hunderte E-Mails der Anwohner sowie eine Petition, die bislang 2700 Unterschriften bekommen hat, nicht reagiert haben soll. Rosefeldt sagt auch, als er bei der Naturschutzbehörde im Bezirksamt zur Grundlage der Fällungsgenehmigung nachfragen wollte, „da wurde einfach aufgehängt“.
Zu der Bezirksverordnetenversammlung Mitte Januar waren drei Vertreter der Bauherrenschaft für das Projekt sowie die vorgesehene Architektin eingeladen, um die angebliche Notwendigkeit der Baumfällung zu begründen. Von den Anwohnern wurde niemand eingeladen. Ihm komme das verdächtig vor: „Herr Gothe hatte mit uns viel telefoniert, er wusste, dass wir ein Anliegen haben“, sagt er. Zudem wurden in dieser Sitzung „Fehlinformationen“ verbreitet, sagt er: Unter anderem, dass der Baum sehr krank sei, denn seine Lebensfähigkeit sei durch einen direkt daneben stehenden Götterbaum bedroht gewesen.
Tatsächlich gibt es keinen Götterbaum direkt neben der Eiche; vier Götterbäume im Hof wurden aber schon gefällt im Vorfeld der Bauarbeiten. Ihre Äste liegen immer noch krumm am Betonboden des Hofs. Es sei auch behauptet worden, es gebe einen Bedarf für neue Parkplätze, vor allem in der Sebastianstraße. Beim Besuch des Grundstücks am Dienstag waren 28 markierte Parkplätze unbesetzt.
Verdunstung und Verschattung seien jetzt mehr denn je Thema
Die Eiche sei ein „Naturparadies“, sagt Julian Rosefeldt – dort leben vor allem Eichhörnchen und allerlei Vögel. Am Morgen des Treffens im Hof hat Rosefeldt ein Video von einem Bussard in dem Baum gefilmt. Aktuell wird vom Bauherren des Projekts vorgeschlagen, einen fünf bis sechs Meter langen Abschnitt des Stammes als „Biotop“ stehen zu lassen, der weiterhin einen Lebensraum für Insekten bieten soll.
Helene Grass, Rosefeldts Nachbarin, nennt diese Idee „hanebüchen“. Vor allem vor dem Hintergrund des Klimanotstands, der selbst im Bezirk Mitte 2020 ausgerufen wurde, kann sie die Fällung nicht nachvollziehen. „Nach diesem Sommer geht es noch mal mehr um Verdunstung, Verschattung, CO₂-Abbau, die Artenvielfalt“, sagt Grass. „Es ist einfach absurd, wie das alles so durchgewunken wird.“ Die Bürgerinitiative sei nicht gegen den Bau des neuen Hauses. „Das wäre eine Doppelmoral, zu sagen, hier dürfen wir wohnen, aber andere nicht“, sagt sie. Die Anwohner haben zum Beispiel gefragt, ob es möglich wäre, den Neubau ein paar Meter weiter von der Eiche entfernt zu platzieren. „Wir wollen hier einfach so viel Grün erhalten, wie es geht.“
Das Grün der Eiche sei dabei ein besonderes, sagt Grass: Über die mehr als 200 Jahre sind die Wurzeln der Eiche 20 bis 30 Meter tief gewachsen, was ihr einen ständigen Zugang zum Wasser sicherstellt. Frühere Bauentwicklungen rund um den Hof haben ihr auch nicht geschadet; nach dem Bau des Hauses Dresdener Straße 113 im Jahr 1870 wuchs der Baum einfach vom Gebäude weg in Richtung Licht. Und er wuchs auch weiter, nachdem vor einigen Jahren einige Äste für den Anbau einer Balkonanlage beschnitten wurden. Dabei ist die Eiche noch relativ jung: Traubeneiche und Stieleiche, die in Berlin die am meisten verbreiteten Artensorten sind, können zwischen 500 und 1000 Jahre alt werden. Sie könnte also noch viele Generationen lang gesund über den Hinterhof wachen.
Der Abgeordnete Max Landero vertritt den Bezirk Mitte im Berliner Abgeordnetenhaus. Es war das erste Mal, dass die SPD in diesem Wahlkreis gewonnen hat. „Wir müssen besser mit unseren Wählerinnen und Wählern kommunizieren, wir müssen ihnen zuhören und auf ihre Anliegen reagieren“, sagt er. Dabei sind viele Entscheidungsträger in der Sache seine Parteikollegen – auch Ephraim Gothe. In einen Streit mit den Parteigenossen will Landero nicht hineingezogen werden. „Ich bin hier als Abgeordneter, nicht als Parteimensch“, sagte er der Berliner Zeitung.
Die Mitglieder der Initiative wollen gerade jetzt den Druck erhöhen und sich verstärkt gegen die Baumfällung wehren: Denn dafür bleiben ihnen nur noch wenige Wochen. Das Berliner Naturschutzgesetz verbietet die Fällung von Bäumen zwischen 1. März und 30. September – wegen der Tiere, für die Bäume Lebensraum sind. Das heißt, ab dem 1. Oktober darf der Baum gefällt werden, erzählt Helene Grass. Eine ältere Dame aus der benachbarten Sebastianstraße fragt sie, ob man vorhat, mit einer Mahnwache oder Menschenkette den Baum zu schützen. „Wenn wir uns anketten, bezahlen wir viel Strafgeld wegen des Baustillstands“, sagt sie. „Das kann sich ja keiner hier leisten. Wir kämpfen noch wie verrückt, aber bisher hat es nichts verbessert.“
Gothe: Das ist ein „Paradebeispiel“ für die Berliner Baupolitik
Bezirksstadtrat Ephraim Gothe ist gegenüber die Berliner Zeitung auf die Anliegen der Bürgerinitiative eingegangen. Einige ihrer Behauptungen lehnt er ab: Unter anderem, dass sie bewusst von der BVV-Sitzung im Januar 2022 ausgeschlossen wurden. „Wir können nicht jeden einladen, der zu einer Frage der BVV was sagen möchte“, sagte Gothe, dabei gebe es „nichts Geheimnisvolles“. Es sei auch „garantiert nicht so“, dass falsche Angaben über den Baum auf der Sitzung gemacht und zur Grundlage für die Erteilung der Baugenehmigung wurden – denn Vertreter des Bezirksamts für Umwelt und Naturschutz seien auch dabei gewesen, und das Erhalten von Bäumen liege ja in ihrem Interesse. Selbst die Oppositionsverordneten der CDU hätten bei der Sitzung gesagt, es sei nichts mehr gegen die Baumfällung zu machen: Denn es handele sich in diesem Fall um die gesetzliche Regelung der Berliner Bauordnung.
Nach den Berliner Baugesetzen darf ein Baum auf einem Grundstück gefällt werden, wenn der Eigentümer darauf bauen will, solange das Bauwerk der Berliner Bauordnung entspricht. „Es ist egal wie groß oder wie viele oder wie alt diese Bäume sind“, sagt Gothe. So entsteht das von Julian Rosefeldt erwähnte Prinzip: „Baurecht bricht Baumrecht.“ Dieser Fall sei ein „Paradebeispiel“ für eine Situation, die in Berlin eigentlich keine Seltenheit ist, sagte Gothe: Er und seine Kollegen hätten sich „jede Menge Mühe gegeben“, die Fällung der Eiche in diesem Fall zu verhindern – schließlich seien sie aber als Behörden dazu verpflichtet, die Gesetze so anzuwenden, wie sie sind.
In solchen Fällen muss einen Ausgleich für die Fällung festgelegt werden, was durch das Bezirksamt für Umwelt und Naturschutz geregelt wird. Der Eigentümer muss sich entweder dazu verpflichten, das Grundstück angemessen wieder zu bepflanzen, oder dem Amt eine entsprechende Summe zahlen, um die entsprechenden Kosten zu decken. In diesem Fall hat das Bezirksamt einen Preis von 90.100 Euro für die Fällung berechnet.

Der Abgeordnete Max Landero findet, Eigentümer könnten sich mit so einer Praxis einfach „freikaufen“ von ihren Pflichten gegenüber der Natur. Auch Ephraim Gothe gibt zu, 90.100 Euro sei relativ gesehen keine große Summe. „Wenn man weiß, was eine Eigentumswohnung kostet, ist das nicht mal eine Kücheneinrichtung“, sagt er. Solche Summen als Ausgleich für gefällte Bäume stellen „überhaupt keine Hürde für den Eigentümer“ dar, findet Gothe – und selbst das Amt für Umwelt und Naturschutz müsse dabei einsehen, dass man rechtlich keine andere Möglichkeit habe, eine Baumfällung zu verhindern, sobald eine Baugenehmigung erteilt ist.
Eine Klage gegen die Baugenehmigung bleibt noch offen
In den Hof neben der Dresdener Straße 113 zieht langsam die Dämmerung ein, nur Julian Rosefeldt ist noch da. Welche Hoffnung hat er noch, die Eiche zu retten? In einem Antrag an die BVV Mitte hat er den Verordneten drei Fragen gestellt: Wie kann diese Eiche, angesichts ihres Alters und der drohenden Klimakrise, berechtigt gefällt werden? Warum wurde die 50 Meter lange Zufahrt in den Hof vom Bezirksamt genehmigt, obwohl eben dieses Bezirksamt im Jahr 2015 einen Antrag auf eine lediglich zwölf Meter lange Zufahrt zu einer geplanten Tiefgarage abgelehnt hatte? Und: Wären die Bezirksverordneten bereit, die Baumfällgenehmigung so lange auf Eis zu legen, bis zwei Vertreter der Bürgerinitiative ebenfalls eingeladen und gehört wurden? Rosefeldt hofft, nach Berücksichtigung der Fragen „werden die Verordneten sich endlich die Zeit nehmen, die Tatsachen zu überprüfen“.
Donnerstagnachmittag wurden die Fragen vor der BVV besprochen. Rosefeldt durfte persönlich bei der Sitzung nicht dabei sein; „pandemiebedingt“ dürften keine Gäste zur BVV in Präsenz zugelassen werden, hieß es in einer E-Mail, die der Berliner Zeitung vorliegt. Nach der Sitzung äußert sich Rosefeldt enttäuscht. „Wir wurden gar nicht adressiert“, sagt er. Die „Falschbehauptungen“ des Bauherrn seien wiederholt worden, er sah seine Fragen gar nicht beantwortet – „obwohl diese Fragestunde eigentlich für Bürger ist“.




