Michael W. trägt einen Rolli und sein rotblondes Haar etwas verwuschelt. Er gehört zu den Mitgliedern der Organisation „Aufstand der letzten Generation“, die seit Wochen immer wieder Autobahnzufahrten und Straßen in Berlin blockieren und sich auch auf der Fahrbahn festkleben. Er ist 59 Jahre alt und studierter Biologe. Zuletzt hat er als Programmierer gearbeitet, seit April ist Michael W. arbeitslos.
Die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn einen Strafbefehl über 30 Tagessätze zu je 50 Euro beantragt. Die Anklagebehörde wirft Michael W. Nötigung vor. Er soll sich am Abend des 28. Januar dieses Jahres in Höhe des Berliner Hauptbahnhofes auf die Invalidenstraße gesetzt und die Fahrbahn mit drei weiteren Anhängern der „Letzten Generation“ blockiert haben. Dadurch sei es zu einem langen Rückstau gekommen.
Gegen den Strafbefehl hat W. Einspruch eingelegt. Der hagere Mann muss sich eine Brille aufsetzen, um seine schriftlich verfasste Einlassung lesen zu können. „Seit Anfang 2022 begehe ich zivilen Ungehorsam“, sagt der Angeklagte. Die Aktionen richteten sich nicht gegen Autofahrer. Sie dienten vielmehr dem Wohle der Menschen – also auch der Autofahrer, beteuert er. Mit dem Festkleben auf Straßen wolle man die Regierung zwingen, sofort etwas gegen den Klimawandel zu tun. „Wir sind mittlerweile in der Klimakatastrophe angekommen.“
Die Verhandlung gegen Michael W. ist der neunte Prozess gegen die Aktivisten der „Letzten Generation“, der vor dem Amtsgericht Tiergarten stattfindet. Eine Etage tiefer läuft Prozess Nummer zehn gegen den 31-jährigen Kevin H., der Ende Januar zusammen mit weiteren Demonstranten die A100-Ausfahrt Beusselstraße blockiert hatte. Auch er legte gegen einen Strafbefehl Einspruch ein.
Mehr als 700 Strafverfahren gegen Straßenblockierer sind mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft anhängig. Weit über 240 Strafbefehle ergingen. Wird dagegen Einspruch eingelegt, muss das Amtsgericht Tiergarten in einer öffentlichen Verhandlung darüber entscheiden. Dort liegen derzeit 174 Fälle. Und auch die Diskussion über den Umgang mit der Klimagruppierung nimmt zu. So erklärte CDU-Generalsekretär Mario Czaja am Montag, die Unionsfraktion im Bundestag wolle mit einem Gesetzentwurf härtere Strafen erreichen. Dagegen positioniert sich Berlins Verkehrssenatorin Bettina Jarasch. „Ich sehe keinen Grund, irgendeinen Sonderstraftatbestand für Klimakleber einzuführen“, sagt die Grünen-Politikerin.
Für Richter ist der Straftatbestand der Nötigung nicht erfüllt
Und auch nicht jeder Richter ist offenbar der Meinung, dass die Blockierer die Härte des Gesetzes treffen muss. So lehnten es Berliner Richter bisher in drei Fällen ab, Strafbefehle zu erlassen. In zwei Fällen wegen Bedenken, ohne Prozess zu entscheiden. In einem Fall gab ein Richter Anfang Oktober dieses Jahres einer Mitstreiterin der „Letzten Generation“ recht.
In seinem Beschluss begründete er die Entscheidung damit, dass schließlich jede politische Demonstration lästig, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich sei. Es habe sich um eine Zusammenkunft gehandelt, bei der die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen worden sei. Zudem nannte der Richter das Anliegen der Klimakämpfer ein wissenschaftlich nicht zu bestreitendes Thema.
Die Frau, gegen die die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl erwirken wollte, hatte am 23. Juni gemeinsam mit 66 anderen Frauen und Männern die Kreuzung am Frankfurter Tor blockiert. Dreieinhalb Stunden kam es zu erheblichen Staus. Der Richter am Amtsgericht Tiergarten habe in der Sitzblockade „keine verwerfliche Handlung“ gesehen, sagt Gerichtssprecherin Lisa Jani. Der Tatbestand der Nötigung sei somit nicht erfüllt gewesen. Die Staatsanwaltschaft habe gegen die Entscheidung Einspruch eingelegt. Nun müsse das Landgericht darüber entscheiden.
Der 31-jährige Kevin H. wird an diesem Dienstag zu einer Geldstrafe in Höhe von 1650 Euro verurteilt, der Prozess gegen Michael W. ausgesetzt. Die Richterin will alle Verfahren, die gegen den 59-Jährigen vorliegen, zusammenfassen. W. hat an zehn Straßenblockaden mitgewirkt. Auch am Montag der vorigen Woche, als sich Mitglieder der Klimagruppe an einer Schilderbrücke der A100 festklebten. Die Blockade hatte für Aufsehen gesorgt, weil ein Feuerwehrwagen auf dem Weg zu einem lebensrettenden Einsatz – eine Radfahrerin war von einem Betonmischer überrollt worden – womöglich aufgehalten worden war.









