Als ich nach zwanzig Jahren spätabends in die Redaktion der Berliner Zeitung zurückkehren wollte, fand ich den Eingang nicht. Auf dem Klingelschild an einem Bürogebäude in der Alten Jakobstraße, das mir als Adresse der Berliner Zeitung angegeben worden war, stand: „DTVP. Deutsches Vergabeportal GmbH“. Ich trat einen Schritt zurück. Auf der Fassade war kein Hinweis auf die Zeitung, kein Logo, nichts. Ich trat erneut vor das rätselhafte Klingelschild. Plötzlich wurde es taghell. Ich hatte eine Lichtschranke ausgelöst. Ich erkannte hinter dem Glas in der Ferne einen Mann an einem Pult, offenkundig der Nachportier. Ich winkte ihm. Er hob mürrisch den Kopf und öffnete mir die Tür.
Er bestätigte, dass ich an der richtigen Adresse sei. Der Portier deutete mit seiner Hand auf die Wand hinter mir. Ich drehte mich um. An der Wand lehnte ein überdimensionaler blau-weißer Buchstabe, ein „B“ in Frakturschrift. Der habe früher vom Dach des alten Bürogebäudes in der Karl-Liebknecht-Straße geleuchtet, erklärte der Portier.
Die Berliner Zeitung war ein Fixpunkt in Ost-Berlin gewesen. Der Alexanderplatz lief direkt auf das Gebäude des Berliner Verlages zu. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall war von der Ikone nun also nur noch ein „B“ übrig, abgestellt in einem Kreuzberger Bürohaus. Der Portier sagte, die anderen Buchstaben stünden im Depot, gleich um die Ecke. Herr Friedrich, der neue Eigentümer, wolle sie am Bürohaus anbringen lassen. Doch es gäbe Schwierigkeiten mit der Bürokratie. Die Buchstaben seien schwer zu befestigen, ein Sicherheitsrisiko also.
Das Bürohaus bestand im Inneren fast nur aus Glas. Es herrschte Totenstille. Ich war nach vielen Jahren zur Berliner Zeitung zurückgekehrt, weil ich Lust auf das freie Chaos hatte, das in Zeitungen früher herrschte. Zu meiner Zeit in der Berliner Zeitung, in den späten 1990er-Jahren, funktionierte das Büro des Chefredakteurs abends wie eine Bar. Die Redakteure kamen und schnorrten meine teuren Zigarillos. Einige Ostler revanchierten sich mit Wodka. Es gab immer etwas zu erzählen. Einmal kamen einige Feuilletonisten und waren ganz aufgeregt, ein Kollege wollte einen Seitensprung wagen, mit einer Redakteurin aus der Außenpolitik. Als er bei ihr zu Hause ankam, flog er jedoch hochkant raus: Er hatte seinen frisch gebügelten Pyjama auf ihrem Bett ausgebreitet.
Es gab auch Momente großer Anspannung: Einmal kam ein Redakteur, unsicher und verstört. Er eröffnete mir, dass er als Student kurze Zeit bei der Stasi gewesen sei. Er wusste, dass ich eine harte Haltung hatte: Wer eine Akte besaß, musste gehen. Die Journalistengewerkschaften und die taz attackierten uns für diese Position. Sie sagten, wir würden die Stasi-Sachen nur rauskramen, um Leute rauszuschmeißen. Der Redakteur sagte, er wisse nicht, ob es eine Akte gäbe. Wir trafen die Übereinkunft, über seine Vergangenheit gemeinsam zu schweigen. Für die meisten war die Zeitung ihr Leben. Viele verbrachten mehr Zeit in der Redaktion als zu Hause. Die Stimmung war so, wie Max Brod es in seinem Buch „Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion“ beschreibt. Davon war hier in der Alten Jakobstraße nichts zu spüren. Das Flair erinnerte eher an ein Finanzamt. Ich war überrascht.
An jenem Abend im Herbst 2019 brannte in einigen Büros noch Licht. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen saßen in gebeugter Haltung vor ihren Computern. Sie blickten konzentriert auf ihre Bildschirme. Ihre Gesichter flimmerten blau. Nur in einem einzigen Stockwerk ging es hoch her. Ich sah hinter den Fenstern junge Leute hin- und herlaufen, sie deuteten auf Tafeln, debattierten lebhaft. Das sind keine Redakteure, dachte ich mir. Sie tragen keine Strickpullover! Ich fragte mich, ob das Schauspieler sein könnten oder eine Filmcrew. Die Friedrichs waren damals eine kurze Zeit lang die Lieblinge der Medien. Ich war erstaunt, als ich merkte, dass der Aufzug in diesem Stockwerk hielt. Das Schild sagte irgendwas von „Holding“.
Ich stieg aus und betrat einen Großraum. In einer Ecke sah ich Holger Friedrich. Er hatte ein Kabel im Mund, schaute mit lebhaftem Blick ins Nichts und gestikulierte. Ich musste an meinen norwegischen Freund Knut Ivar Skeid denken. Skeid wirkte auf uns altmodische Journalisten wie ein Besucher von einem anderen Stern: Er hatte kein eigenes Büro und führte im Großraumbüro laute Selbstgespräche, während er aus dem Fenster auf die vorbeifahrende S-Bahn blickte. Später begriffen wir, dass sein Handy seit neuestem eine Freisprechfunktion hatte.
Auch Holger Friedrich erschien mir als ein Mann, der seiner Zeit voraus war. Er erklärte, dass die Zukunft der Berliner Zeitung im „Elektrischen“ lag, wie er das nannte. Er war unbändig enthusiastisch und abenteuerlich naiv. In einem Porträt von Alexander Osang im Spiegel erweckten die Friedrichs den Eindruck, es sei der Gipfel der Avantgarde, eine Zeitung zu machen: „Das ist Punk“, hieß die Überschrift. Was nicht in dem Artikel stand, wurde mir an diesem Abend klar: Friedrich hatte eine romantische Vorstellung vom Journalismus. Er träumte davon, dass Journalisten die Wirklichkeit beschreiben, wie sie ist. Sie sollten nicht Mitspieler, sondern ausschließlich Beobachter sein – unbestechlich und distanziert. Zeitungen im Allgemeinen und die Berliner Zeitung im Besonderen hielt er für Kulturgüter zum Erhalt der Demokratie.
Als Mann, der aus der Software-Industrie kam, glaubte er an das Prinzip, dass die bessere Idee gewinnen möge. Er sprach von flachen Hierarchien. Es müsse alles schnell gehen und es dürfe keine Tabus geben. Er erklärte mir, warum ich kein Schild für die Berliner Zeitung am Eingang gefunden hatte. Der Dumont-Verlag, dem Friedrich den Berliner Verlag abgekauft hatte, hatte das Unternehmen in zahllose kleine Gesellschaften aufgespalten. Diese kreisten um sich selbst, während draußen die alte Medienwelt langsam unterging. Holger Friedrich sagte, er wisse, dass die Berliner Zeitung eigentlich nicht zu retten sei und er es genau deshalb versuchen wolle. Seine Mutter lese die Zeitung seit Jahrzehnten und er wolle, dass sie sie weiter lesen könne.
Die jungen Leute, die Friedrich aus einer anderen Welt eingeflogen hatte, waren Softwareentwickler, Designer, Business-Consultants. Sie arbeiteten fieberhaft an einer Website. Noch im Jahr 2019 wurde die Website der Berliner Zeitung von Dumont-Mitarbeitern aus Köln mit Inhalten befüllt. Die Zeitung existierte nicht im digitalen Raum. Friedrich schreckte das nicht ab. Er sagte, die Technik sei ein Hilfsmittel, damit sich die Journalisten auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren können: unabhängig und unter Berücksichtigung möglichst vieler Perspektiven die Leser zu informieren.
Ich fragte mich, was für ein Verleger Friedrich wohl sein würde. Ich hatte meist für große Konzerne gearbeitet, bei denen Eigentümer wie die Familie Mohn im Himmel von Gütersloh schweben oder aber Investoren sind, denen der Inhalt völlig egal ist, solange es keinen Ärger gibt und die Zahlen stimmen. Über eine Marotte des legendären Alfred Neven DuMont berichtete mir Martin Süskind, damals Chefredakteur des Kölner Stadtanzeigers. Während eines Gesprächs in seinem Büro in Köln öffnete Süskind plötzlich eine Schreibtischlade und zeigte mir einen großen Stapel von Vermerken des Verlegers. Auf einem Zettel stand handgeschrieben: Der Verleger gehe davon aus, dass über ein Event eines lokalen Bankiers wohlwollend berichtet würde. Die Bank war ein großer Anzeigenkunde. Süskind lächelte mehrdeutig, als ich ihn fragte, ob er die Anweisungen alle befolgt habe. Von Holger Friedrich sollte ich in den folgenden Jahren keine einzige derartige Avance erleben. Allerdings ist die Zeit der großen Anzeigenkunden mittlerweile auch vorbei. Friedrich wählte indessen einen anderen Ansatz: Er absolvierte eine Volontärsausbildung in Leipzig und schreibt gelegentlich selbst Artikel, die mit Namen gekennzeichnet sind. Er hat sich für diese Artikel der Kontrolle durch die Chefredaktion unterworfen und ihr ein Vetorecht eingeräumt.
Friedrich war geradezu besessen von der Zukunft. Das Übermorgen war ihm näher als das Morgen. Das Heute oder gar die Vergangenheit interessierten ihn kaum. Man konnte sie nicht verändern. Daher sprachen wir damals auch nicht über sein Leben. Wochen nach unserem ersten Gespräch veröffentlichte die Welt am Sonntag Teile seiner Stasi-Akte. Ich las mir die gesamte Akte von vorn bis hinten durch und kam zu dem Schluss, dass der junge Friedrich während seiner kurzen Armeezeit – in diese Zeit fiel die Akte – der Stasi nichts gebracht hatte, sondern von den Schnüfflern seinerseits massiv beschattet wurde. Viele seiner von der Staatsmacht verfolgten „Vergehen“ waren allerdings „Schabernack“, wie Friedrich einen anarchistischen Grundimpuls nennt, der ihn heute noch überkommt. Weil ich in den 90er-Jahren viele Stasi-Leute zu „enttarnen“ hatte, konnte ich sagen, dass die Bewertung der Stasi-Akte von Friedrich durch die Birthler-Kowalczuk-Kommission akkurat war: Friedrich sei wegen seiner lockeren Sprüche „unter dem Druck, ansonsten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden“, zu einer kurzen IM-Tätigkeit „gepresst“ worden. Die Kommission sagte, die Informationen von Friedrich hätten „in einem Fall zu einer strafrechtlichen Belehrung eines anderen geführt“. Ob die Informationen von Friedrich kausal für die „Belehrung“ waren oder nicht, ist nicht zu erkennen. Die Kommission selbst äußerte Skepsis gegenüber der Akte. Eine so brachiale Stigmatisierung Friedrichs als „Stasi-Mann“, wie sie einige Medien vornahmen, lässt sich mit dem Bericht nicht begründen. Die von der Redaktion beauftragte Kommission konnte völlig unabhängig ermitteln, eine Beeinflussung durch den Verleger fand meines Wissens nicht statt. Mit der zeitlichen Distanz von einem Vierteljahrhundert sollte der Fall auch unter strengen humanistischen Kriterien als abgeschlossen gelten.
Die Stasi-Geschichte war für alle Beteiligten eine enorme Belastung in den ersten Jahren des Neuanfangs. Mir war allerdings schon bei meinem abendlichen Besuch klar, dass ein radikaler Rettungsversuch, wie Friedrich ihn wollte und wie er zum Überleben des Blattes auch notwendig war, nicht ohne schwere Konflikte abgehen konnte. Das war schon in meiner ersten Zeit bei der Berliner Zeitung so, auch bei der Netzeitung hatte ich das erfahren. Journalisten sind, auch wenn sie politisch progressiv sein mögen, sehr konservativ, was ihre Arbeitsumgebung angeht. Sie halten sich in der Regel für klüger als ihre Leser und ganz sicher für kompetenter als ihre Verleger. Impulsive Verleger wie die Friedrichs sind ungeduldig, unberechenbar und mitunter hart – zu sich und allen anderen. Mir war klar, dass es an vielen Stellen krachen würde, dass es Verwundungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten geben würde; dass man als Führung am Ende vieles bedauern und sich wünschen würde, es hätte all die Verletzungen nicht gegeben. Zugleich war mir klar, dass wir vielen neuen Leuten Chancen eröffnen würden, die es anderswo nicht mehr so oft gibt. Vor allem aber verstand ich, dass das Konzept der Friedrichs nur aufgehen konnte, wenn die Redaktion wirklich frei war.
Was mir damals nicht klar war: Die größte Einschränkung der Freiheit sollte für uns Journalisten nicht von einem unkonventionellen Verleger, sondern von außen und durch uns selbst kommen. Die hereinbrechenden Krisen – Corona, Krieg – sollten einen Konformitätsdruck erzeugen, der an die Substanz ging. Alle Medien spürten diesen Druck. Wir waren es nach vielen Jahrzehnten der behaglichen westeuropäischen Langeweile nicht mehr gewohnt, die Nerven zu behalten, wenn um uns herum Angst, Panik und Unsicherheit herrschten. Wie alle Medien waren auch wir den PR-Maschinen aus Politik und Industrie hoffnungslos unterlegen. Alle sicherten sich ab, indem sie auf die Kollegen schielten, dasselbe schrieben und hinter einer Brandmauer der Gleichförmigkeit Schutz suchten: Wer konnte schon beurteilen, was richtig war? Wer es in diesem Umfeld wagte, den Kopf herauszustrecken, wurde von einem erstaunlich homogenen Kollektiv zurückgepfiffen.
Auch intern herrschte Unsicherheit: Als wir von einer der ersten großen Demos am Brandenburger Tor ein Foto für die Seite eins ausgesucht hatten, meldete sich ein Redakteur mit einem Einwand: Man könne das Foto nicht bringen, die darauf abgebildete Demonstrantin trage keine Maske, wenn wir das brächten, gäben wir als Zeitung ein schlechtes Beispiel für die Leser. Ein anderes Mal wurde ein Redakteur von seiner eigenen Twitter-Gefolgschaft niedergemacht, weil er geschrieben hatte, er habe auf einer Corona-Demo keine Nazis gesehen. Ob er denn nun bei der AfD sei, wurde er angepöbelt, und es war gar nicht so einfach, ihn wieder aufzurichten.
Je länger die Pandemie ging, umso undurchlässiger wurde die Mauer. Geschützt wurde der antischwurblerische Schutzwall von Scharfmachern, die Schlag-Zeilen produzierten wie diese: „Möge die ganze Republik mit dem Finger auf sie zeigen!“ Dabei wäre es möglich gewesen, mit nüchternem Journalismus Aufklärung zu betreiben. Ich erinnere mich an die aggressive Intervention eines Mitarbeiters vom Max-Delbrück-Zentrum in Berlin, der die Löschung eines Artikels verlangte. Als ich den Forscher daraufhin interviewte und er bemerkte, dass er mir nicht eine Wortspende nach dem Motto „Mach mir mehr Angst!“ liefern soll, bekam ich vernünftige, abwägende Antworten. Er ist Schweizer, karrierebewusst und etwas arrogant, aber von Natur aus nüchtern. Da konnte ich ihn packen.
Holger Friedrich stand in dieser Zeit wie ein Fels in der Brandung. Als ein Häufchen Demonstranten vor dem Berliner Verlag aufmarschierte, um uns, wie alle anderen Medien, aufzufordern, sachlich zu berichten, war Friedrich der einzige Verleger in der Stadt, der vor die Tür trat, mit den Demonstranten sprach und ihre Petition entgegennahm. Die anderen Zeitungen spotteten über die Demonstranten, verschanzten sich aber sicherheitshalber hinter ihren Schreibtischen. Friedrich bestärkte uns in unserem Bestreben, umfassend und kritisch zu berichten. Er hielt, wie ich weiß, dem persönlichen Druck gegen alle Versuche, uns „auf Linie“ zu bringen, stand. Bestärkt wurden wir in dieser extrem schwierigen Zeit von den Lesern: Wir überzeugten neue Abonnenten, und viele Leser von damals sind uns bis heute treu geblieben.
Dies wird uns auch in Zukunft helfen, und wir werden die Unterstützung durch die Leser brauchen: Die Freiheit der Presse ist heute auch mächtigen Spielern ein Dorn im Auge. Die Berliner Zeitung wurde von einem ukrainischen Diplomaten und zuletzt vom Bayerischen Verfassungsschutz diffamiert. Zum Glück konnten wir gegenhalten: Der Boykott-Aufruf des Diplomaten verhallte im Nichts, der Verfassungsschutz musste unter dem öffentlichen Druck seine Schmutzkampagne einstampfen. Die Attacken haben zwar genervt, ihnen aber zu widerstehen, hat uns stärker gemacht. Natürlich machen auch wir Fehler, werden unseren hohen Ansprüchen allzu oft nicht gerecht. Wir versuchen jedoch jeden Tag, es morgen besser zu machen. Die Voraussetzungen haben wir: Die Berliner Zeitung kann für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Redakteure frei und unabhängig sind wie schon lange nicht.
Mein Gespräch in Kreuzberg endete vor fünf Jahren mit der Ankündigung des Verlegers, die Berliner Zeitung werde in die Karl-Liebknecht-Straße zurückkehren. Er hatte damals, glaube ich, keine Ahnung, wie das gehen soll. Es ist trotzdem so gekommen. Neulich habe ich Holger Friedrich gefragt, wann denn nun der frühere Schriftzug wieder am Hochhausdach angebracht wird. Friedrich sagte, ich solle die Buchstaben herschaffen. Es klang wie ein Befehl. Ich habe so getan, als hätte ich ihn nicht verstanden.

