Brutal Berlin

90 Minuten und länger: Vom Versuch, aus Köpenick zum Alexanderplatz zu gelangen

Weil Berlin es nicht hinbekommt, seine Baustellen zu koordinieren, versinkt der Südosten der Stadt im Verkehrschaos. Ein masochistischer Selbstversuch.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, aus Treptow-Köpenick in die Berliner City zu gelangen. Theoretisch!
Es gibt mehrere Möglichkeiten, aus Treptow-Köpenick in die Berliner City zu gelangen. Theoretisch!Uroš Pajović/Berliner Zeitung am Wochenende

Neulich kam es zu einer Situation im Zug, die wieder einmal zeigt, dass wir Pendler einiges abkönnen. Es ist morgens, eng gequetscht stehen in einem Regionalexpress viele Menschen nebeneinander. Fast kein Murren ist zu hören, das gehört sich so unter Pendlern. Wir sind Profis und stehen das hier gemeinsam durch. Minutenlang warten wir auch geduldig auf die Abfahrt. Oben in der 1. Klasse des Doppelstockzuges sind Plätze frei, jemand setzt sich hin. Ein Mann, der dort schon mit Anzug sitzt, ruft: „Das ist hier die 1. Klasse!“ Der Pendler: „Biste Schaffner in Zivil oder wat?“

Für die Pendler im Südosten Berlins waren die letzten drei Wochen das pure Chaos. Hunderttausende versuchen täglich, aus dem Südosten Berlins und dem Umland dahinter zu ihren Arbeitsstellen im Stadtzentrum zu gelangen – und wieder zurück. Seit dem 5. Mai wird an der Bahnstrecke im Bereich Baumschulenweg gearbeitet. Doch alternative Wege zum Alexanderplatz, etwa per Auto oder via S-Bahnhof Köpenick, sind ebenfalls ziemlich verbaut.

Schon im alten West-Berlin und nach der Wende redeten Politiker und Bürokraten davon, dass die Berliner Verwaltung die vielen Verkehrsbaustellen koordinieren müsse. Doch daraus wurde bis heute nichts. Jede Institution baut, wie sie Lust hat. Das führte in den vergangenen Wochen in Treptow-Köpenick zu einem Verkehrschaos von bisher unbekanntem Ausmaß.

Wir haben drei masochistische Selbstversuche unternommen, aus Köpenick zum Stadtzentrum zu gelangen. Schon vorweg: Alle drei dauerten ungefähr gleich lange und führten zu einer großen Belastung der Nerven.  

Wer einen Termin in der City hat, ist gut beraten, eine S-Bahn früher zu nehmen. Der nur alle 20 Minuten von Königs Wusterhausen kommende Zug verkehrt bis Schöneweide. Das ist eigentlich eine überschaubare Strecke, auf der nicht viel passieren sollte. Doch wegen einer kaputten Schranke in Zeuthen hat die Bahn an diesem Tag acht Minuten Verspätung. Damit ist in Schöneweide der Anschluss an den Flughafenexpress FEX bis zum Ostkreuz gefährdet, den clevere Fahrgäste nutzen.

Endlich Ankunft in Schöneweide. Die Spannung steigt. Ist der FEX noch da? Der Bahnhof Schöneweide ist seit vielen Jahren eine Baustelle. Doch die Arbeiten sind gefühlt so gut wie eingestellt. Menschenmassen schieben sich zentimeterweise über den schmalen Bahnsteig, der wegen der Bauzäune an manchen Stellen nur noch Handtuchbreite hat. Das Wort Personennahverkehr bekommt hier eine neue Bedeutung.

Die Menge bewegt sich langsam die enge Treppe abwärts. Unten wäre Laufschritt zum Regionalbahnsteig angebracht, doch es gibt Menschen-Gegenverkehr. Am Regionalbahnsteig meldet die elektronische Anzeige, dass die Hatz umsonst war: Der Flughafenexpress ist ausgefallen. Der nächste kommt in 30 Minuten. Den Termin am Hackeschen Markt kann man wohl vergessen. Also Kapitulation und Rückzug in die S-Bahn nach Königs Wusterhausen, die auf dem Bahnsteig, von dem man gerade kam, für den Rückweg bereitsteht. Sitzend im Zug gibt es Interessantes zu beobachten: Der FEX fährt plötzlich ein. Wieder raus – Treppe runter – Sprint – Treppe rauf – rein in den Flughafenexpress.

Ein Hinweisschild auf dem S-Bahnhof Plänterwald.
Ein Hinweisschild auf dem S-Bahnhof Plänterwald.Andreas Kopietz/Berliner Zeitung

Ankunft Ostkreuz, Übergang zur Stadtbahn. Wegen eines Zugschadens „ist der Verkehr  zurzeit unregelmäßig“; die Automatenstimme bittet um Entschuldigung. Doch das ist Routine, das kennt man bei der Berliner S-Bahn seit Jahren: Computerstimmen entschuldigen sich für menschliche Fehler. Letztlich kann der Termin am Hackeschen Markt gehalten werden. Gesamtfahrzeit: 85 Minuten. Das sind 30 Minuten mehr als sonst.

In dieser Zeit hätte man bis kurz vorm Showdown den Film „Falling Down - Ein ganz normaler Tag“ geschaut. Michael Douglas steht als braver Bürger im Stau, ihm brennen die Sicherungen durch. Er bahnt sich seinen Weg – und wehe dem, der sich ihm entgegenstellt.

Nach Feierabend das gleiche Rückfahr-Prozedere. Am Ostkreuz drängen die Menschen in den FEX, der mit drei Minuten Verspätung einrollt. Zehn Minuten enges Stehen zwischen Rollkoffern und Babygeschrei. Der Ruf „Treten Sie bitte durch! In der 1. Klasse ist noch alles frei!“ ertönt. Dann fährt der Zug endlich an. In Schöneweide schiebt sich die Menge die Treppe hinab.

Alternative Route: 22 Minuten Spaziergang

An Tag zwei wollen wir einen besseren Weg ausprobieren. Am S-Bahnhof Grünau steigen wir in die Straßenbahn der Linie 68, um zum Bahnhof Köpenick zu gelangen, von wo aus alle zehn Minuten eine S-Bahn in die Stadt fährt.

Doch am Schlossplatz in Alt-Köpenick ist Schluss, die Bahn dreht ab zum Betriebshof. Denn seit März wird der Bahnhof Köpenick zu einem Regionalbahnhof umgebaut. Das soll bis 2027 dauern. Nur noch eine Fahrspur führt unter der eingerüsteten Brücke hindurch. Leider ist auch die parallel führende Hämmerlingstraße gesperrt. Denn auch hier baut die Bahn an einer Brücke.

Seit März stauen sich an jedem Tag Autos und Straßenbahnen in der Bahnhofstraße in Köpenick.
Seit März stauen sich an jedem Tag Autos und Straßenbahnen in der Bahnhofstraße in Köpenick.Andreas Kopietz/Berliner Zeitung

Und so konzentriert sich alles auf die Bahnhofstraße. Hier müssen sich Straßenbahnen, Busse und Autos eine einzige Spur unter der Brücke am S-Bahnhof Köpenick teilen. Deshalb stauen sich die Autos fast bis zur Lindenstraße zurück – und mit ihnen Busse und Straßenbahnen, die ihre Fahrgäste frühzeitig entlassen, sodass eine Völkerwanderung zum Bahnhof eingesetzt hat. Wer Lust auf einen Spaziergang hat, plant bei schönem Wetter und zügigem Schritt 22 Minuten vom Schlossplatz zum Bahnhof Köpenick ein. Die Gesamtfahrzeit beträgt auch auf dieser Route anderthalb Stunden.

Also geben wir es uns richtig und versuchen an einem anderen Tag wieder die Tour über Baumschulenweg. Da der Flughafenexpress nicht immer zur Stelle ist, bietet es sich an, den Schienenersatzverkehr auszuprobieren. „Abfahrt der Busse am Sterndamm“, plärrt der Lautsprecher in Schöneweide. Der Sterndamm liegt westlich der Strecke. Die Busse fahren aber östlich des Bahnhofs auf der Michael-Brückner-Straße ab.

Glückliche Ankunft am Alexanderplatz

Wer die mehrere hundert Meter dorthin zurückgelegt hat, wird belohnt und muss nicht warten. Zwei Busse kommen, die die Fahrgäste eine Station weiterbringen, zum S-Bahnhof Baumschulenweg. Die Fahrt zieht sich hin. Denn auf der Schnellerstraße, der wichtigen B96, wird gebaut. Auch die parallel verlaufende Neue Krugallee ist wegen Bauarbeiten gesperrt.

In Berlin ist es so: Für die Baustellen auf den Hauptstraßen ist der Senat verantwortlich, für die Nebenstraßen der jeweilige Bezirk. Und so kann es passieren, dass auf einer Hauptverkehrsader gebaut wird, während der Bezirk auf einer Straße, die als Umleitung in Frage käme, die Straßen aufreißt. Seit Jahrzehnten will man das abstellen – siehe oben.

Ankunft am S-Bahnhof Baumschulenweg. Der Pendelzug ist gerade weg, der fährt nur alle zehn Minuten, also weitere Wartezeit für eine Station. Am S-Bahnhof Plänterwald angekommen, fährt ein weiterer Pendelzug nach Treptower Park, der fährt nach drei Minuten ab. In Treptower Park muss der Bahnsteig gewechselt werden – Treppe runter, Treppe rauf. Da steht die S85, die einen zum Ostkreuz bringen könnte. Auf der anderen Seite fährt die Ringbahn in dieselbe Richtung ein. Beide fahren laut Anzeige in einer Minute ab. Doch welche fährt zuerst? Eine Ansage gibt es nicht, und so steigen die meisten Leute in die Bahn, die noch länger wartet. Letztendlich gibt es eine glückliche Ankunft am Alexanderplatz. Die Gesamtfahrzeit beträgt ebenfalls 1,5 Stunden.

„Bussonderfahrstreifen“ und Barrieren

Welche Route ist also die schönste? Die mit der S-Bahn oder die zu Fuß durch den „Grünen Bezirk“, der als der am schnellsten wachsende Bezirk gilt, weil immer mehr junge Familien hierher ziehen, die von Idyll und Ruhe träumen?

Der Bezirksbürgermeister von Treptow-Köpenick lässt ausrichten, dass es in der Bahnhofstraße irgendwann in der kommenden Woche unter anderem einen „Bussonderfahrstreifen“ auf dem Gleisbett der Straßenbahn geben soll, der durch physische Barrieren von der Autospur abgetrennt werden soll. Auch die Ampelschaltung soll optimiert werden.

Die Freude darüber, dass ab diesem Wochenende die Züge ab Baumschulenweg wieder normal rollen, dürfte kurz sein. Denn im Juni soll die Linie wegen Bauarbeiten wieder unterbrochen werden. Es ist nicht zu Ende.