Die Robert Bosch Stiftung hat eine neue Forsa-Umfrage in Auftrag gegeben über geflüchtete ukrainische Schüler an deutschen Schulen. In der Zeit vom 6.–18. April wurden rund 1000 Lehrkräfte nach ihren Erfahrungen befragt. Die Auswahl der Lehrkräfte war zufällig, es wurde jedoch darauf geachtet, dass Lehrkräfte von sämtlichen Schultypen vertreten sind. Über die Ergebnisse sprechen wir mit dem Bildungsexperten Dirk Zorn. Wir treffen ihn in der Lindenstraße 34, wo sich ein Berliner Büro der Robert Bosch Stiftung befindet. Das Gespräch mündet in eine Vision der inklusiven Schule von morgen.
Herr Zorn, welches Ergebnis der neuen Forsa-Umfrage hat sie am meisten überrascht?
Wir haben die Lehrkräfte gefragt, was sie als die größten Herausforderungen der Schulen empfinden. Und überraschend war für mich, dass im April 2022 nur 8 Prozent die Beschulung von Geflüchteten genannt haben. 38 Prozent der Lehrkräfte nannten die Corona-Maßnahmen, 26 Prozent den Lehrermangel – und 21 Prozent das Verhalten der Schülerinnen.
Sie haben die Umfrage zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt begonnen – etwa anderthalb Monate nach Kriegsbeginn. Wahrscheinlich gab es damals noch viele Kommunen, in denen noch gar keine ukrainischen Flüchtlingskinder angekommen waren.
Doch schon damals haben 49 Prozent der Lehrkräfte bestätigt, dass in ihren Schulen im Durchschnitt acht Flüchtlingskinder aufgenommen wurden.
Mich hat interessiert, dass viele Lehrkräfte das Verhalten der Schüler als Problem empfinden – ist damit ein verhaltensauffälliges Verhalten gemeint?
Viele Lehrkräfte berichten ja, dass viele Schüler nach den Lockdowns große Schwierigkeiten hatten, sich wieder in den Schulalltag einzufinden. Dass sie aggressiver sind, schlechter zuhören können und unter Motivationsproblemen leiden. Auch gibt es zahlreiche Fälle von Depression, die im Grunde behandelt werden müssten. Aber leider haben wir in Berlin ein Schulpsychologen-Schüler-Verhältnis von 1:5000, was wir dringend ändern müssen! Corona hat uns gezeigt, dass wir mehr Wert legen müssen auf die psychosoziale Arbeit und das Wohlbefinden der Schüler. Nur Schüler, die sich in ihrer Schule als Menschen angenommen fühlen, werden auf Dauer auch gute Leistungen bringen.
Bisher werden bundesweit 46 Prozent der ukrainischen Flüchtlingskinder in Regelklassen unterrichtet, nur 18 in Willkommensklassen und 32 in einer Kombination aus beidem. Ist das Zufall oder eine bewusste Wahl der jeweiligen Schulleitungen?
Ich zweifle, dass diese Zahlen pädagogisch inspiriert sind. Diese Zahlen spiegeln eine Momentaufnahme wider, die man nicht überinterpretieren sollte. Wir wissen nicht, ob die häufige Aufnahme in Regelklassen nicht schlicht der Knappheit an Räumen und Lehrkräften geschuldet ist.
Doch nun pädagogisch gedacht, was wäre in Ihren Augen der beste Weg?
Wir brauchen einen Dreiklang: Die Geflüchteten müssen sofort Kontakt mit den Regelklassen haben, sie sollten in Deutsch als Zweitsprache (DAZ) unterrichtet werden und außerdem Unterricht in ihrer Herkunftssprache erhalten. Aber bisher berichtet nur ein Prozent der Lehrkräfte von ukrainischsprachigen Präsenz- oder Online-Formaten an hiesigen Schulen.
In der Ukraine ist die Digitalisierung des Bildungssystems weiter fortgeschritten als bei uns. Viele ukrainische Schüler, die in der Diaspora gelandet sind, greifen privat auf die digitalen Lernmittel zurück, die die ukrainische Regierung zur Verfügung stellt. Nicht wenige sind über das Internet noch mit ihren alten Klassen und Stammlehrkräften in der Ukraine verbunden.
Haben Sie schon von der Optima School gehört? Das ist eine staatlich anerkannte Privatschule, die Schüler von der ersten bis zur Abiturklasse unterrichtet und ähnlich wie die Fernuniversität Hagen funktioniert. Das heißt, die Schüler können sich die Themen mithilfe von online abrufbaren Lernmitteln erarbeiten – online Prüfungen schreiben und im persönlichen Gespräch mit Tutoren Rückmeldung erhalten. Vor dem Ukraine-Krieg hatte die Schule rund 10.000 Nutzer, in den ersten Kriegstagen entschied man dort, ein großen Teil des Angebots kostenlos zur Verfügung zu stellen – und inzwischen hat die Schule rund 100.000 Nutzer, davon allein einige Tausend in Deutschland. Auch gibt es offenbar immer mehr Lehrkräfte in und außerhalb der Ukraine, die gerne als Tutoren für Optima arbeiten möchten. Die Robert Bosch Stiftung hat für die kurzfristige Skalierung des Angebots eine Brückenfinanzierung zur Verfügung gestellt, bald werden hoffentlich auch Bund und Länder einspringen …
So entstehen ganz neue Möglichkeiten.
Ja, man sieht, dass man nicht immer eine Lösung vor Ort finden muss. Wenn eine deutsche Schule keine ukrainischsprachigen Lehrkräfte oder Sprachassistenten auftut oder wenn es keine kritische Masse an Schülern gibt für eine ganze Klasse, dann ist das kein Weltuntergang. Denn inzwischen ist man technologisch so weit, dass man den geflüchteten Schülern auch erlauben kann, zum Beispiel zwei Stunden pro Schultag ein digitales Angebot aus dem Heimatland zu nutzen und auf diese Weise etwas über ukrainische Literatur und Geschichte zu lernen.
Sie plädieren für ein sogenanntes Drehtürmodell. Was meinen Sie damit?
Manche kennen den Begriff vielleicht aus der Begabtenförderung. Hochbegabte Schüler können sich stundenweise aus dem Unterricht im normalen Klassenverband ausklinken – bzw. kurz durch die Drehtür nach draußen gehen –, um an kleinen Forschungsprojekten zu arbeiten oder an eine Hochschule zum Juniorstudium zu gehen. Ich wollte diesen Begriff gerne in die Debatte einführen, um zu zeigen, dass wir die Stundenpläne auch im Umgang mit Geflüchteten flexibler gestalten können. Was spricht dagegen, dass sie die Regelklasse regelmäßig verlassen für den DAZ-Unterricht in der Nachbargemeinde oder für den digitalen Ukrainisch-Unterricht?

Wäre das für Sie auch ein gutes Modell für Flüchtlingskinder aus anderen Weltregionen oder für bildungsferne deutsche Kinder, die unter Corona stark gelitten haben?
Unbedingt. Wir müssen alle Kinder in den Blick nehmen – und dafür sorgen, dass die guten Lösungen, die wir im Umgang mit den ukrainischen Schülern finden, eine Art „Mainstreaming“ erfahren. Wir müssen weniger von Integration und mehr von einer breit verstandenen Inklusion reden, die Kinder in all ihrer Vielfalt einbezieht, egal, ob es um den ethnischen Hintergrund, den Sozialstatus oder Erkrankungen geht. Es gibt eine Studie von Miriam Gebauer von der LMU in München, die zeigt, dass die meisten Kinder mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen dort eigentlich keine Selbstwirksamkeitserfahrungen machen … Wie traurig! Wir müssen dazu kommen, dass wir die Lebenswelt und die Familienkultur der zugewanderten Schüler mehr wertschätzen. Wir müssen – wie die Bildungspolitikerin Maja Lasic vorschlägt – die Herkunftssprachen als erste Fremdsprache anerkennen – und insgesamt ein schulisches Klima schaffen, in dem alle Kinder sich gesehen und zugehörig fühlen. Ja, für den Bildungserfolg entscheidend ist das Zugehörigkeitsgefühl!
An den Berliner Europa-Schulen gelingt das schon – und wenn man in Berlin jetzt den herkunftssprachlichen Unterricht in diversen Sprachen fördert, dann wäre das vielleicht wie „Europa-Schule im Kleinen“.
Ja, die große Fluchtbewegung aus der Ukraine wird nicht die letzte gewesen sein, und die Diversität in deutschen Klassenzimmern wird sicher weiter steigen. Deshalb müssen wir unsere Strukturen robust umbauen, gute inklusive Schulen schaffen und die Lehrerbildung reformieren. Sprachförderung, Umgang mit Deutsch als Zweitsprache und Fragen der Mehrsprachigkeit müssen selbstverständlicher und verpflichtender Teil einer modernen Lehrerbildung werden.
Sie sagten anfangs: Nur Schüler, die sich in ihrer Schule als Menschen angenommen fühlen, werden auf Dauer gute Leistungen bringen. Ist das Ihre Formel für die gute inklusive Schule von morgen?
Ja, viel zu lange hat man Wohlbefinden und Leistung in der deutschen Bildungsdebatte als Gegenteile gedacht: So als könne man nicht dafür sorgen, dass die Schüler sich wohlfühlen in ihrer Schule und zugleich einen hohen Anspruch an ihre Leistungen formulieren. Wie falsch! Auch eingewanderte Schüler haben ein Recht darauf, schulisch herausgefordert zu werden! Genauso wie sie ein Recht darauf haben, dass man ihre Familienkultur ernst nimmt! Nur wenn man beides zusammendenkt, entsteht eine chancengerechte Gesellschaft.



