Berlin-Lange Zeit wurde in den Hauptstadtzeitungen vor allem über Lehrer geschrieben, die abwandern. In andere Bundesländer, in andere Berufe. Dass sich die Richtung nun plötzlich umkehrt, dass jemand tut, was Giorgina Kazungu-Haß gerade getan hat, ist ungewöhnlich. Und vielleicht, mit etwas Glück, steht sie am Anfang einer neuen Bewegung.
Vor wenigen Wochen war Kazungu-Haß, 44, noch SPD-Landespolitikerin in Rheinland-Pfalz. Sie war Mitglied des Bildungsausschusses, hat in den letzten sechs Jahren sehr dazu beitragen, dass ein neues Schulgesetz und ein neues Kita-Gesetz auf den Weg gebracht wurden. Sie habe viel gelernt in dieser Zeit, sagt sie, und die Arbeit habe ihr Spaß gemacht. „Und doch überkam mich, wenn ich als Abgeordnete eine Schule besucht habe, immer ein Heimwehgefühl.“
Die Corona-Pandemie hat sie aufgerüttelt, hat ihr noch einmal auf andere Weise gezeigt, wie wichtig „der Lebens- und Lernort Schule“ ist und wie traurig eine Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche allein vor dem Computer hocken und vor sich hin zocken.
Als im Parlament immer häufiger über den eklatanten Lehrermangel diskutiert wurde, dachte sie irgendwann: „Wäre es nicht besser, einfach wieder in die Schule zu gehen und als Lehrerin mit anzupacken, anstatt ständig darüber zu klagen, dass niemand mit anpacken will?“
Und irgendwann hat sie dann den Entschluss gefällt, ihr Mandat niederzulegen und von Mainz nach Berlin zu ziehen. Seit dem ersten September arbeitet sie an der Hans-Rosenthal-Grundschule in Lichtenberg. Sie ist Klassenlehrerin der 4 b und überglücklich. „Die Schule ist einfach der Platz, an dem ich mich am wohlsten fühle. Wieder direkt mit den Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, ist ein großes Geschenk für mich“, schwärmt Kazungu-Hass am Telefon.
Mit anpacken in Lichtenberg
Ihr Mann lebt im Moment noch in Rheinland-Pfalz und pendelt am Wochenende zur Familie. Vielleicht wird er seiner Frau in die Hauptstadt folgen, aber sicher ist das noch nicht. „Wir führen eine moderne Ehe und ein paar Mal bin ich ihm schon hinterhergezogen. Und diesmal war ich es, die gesagt hat: Ich hätte da einen Wunsch!“
Die Hans-Rosenthal-Grundschule, wo Kazungu-Hass seit einer guten Woche arbeitet, wurde erst vor wenigen Jahren gegründet in einer Gegend, wo es viele Plattenbauten gibt und viele Familien hinziehen, die die Mieten in der Innenstadt nicht mehr bezahlen können.
Die Schule ist Kazungu-Hass von der Bildungsverwaltung zugeteilt worden, nachdem sie angegeben hatte, dass sie gerne in den Bezirken Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf arbeiten möchte. „Ich hatte den Eindruck, dass ich dort vielleicht am meisten gebraucht werde.“
Die Stadt Berlin hat sie immer schon magisch angezogen. Und Kazungu-Hass staunt, wie dynamisch das Berliner Bildungssystem im Moment ist. „Die Schulbauoffensive beeindruckt mich, an wie viel Stellen hier etwas passiert. Und dass man es irgendwie schafft, die hohen Schülerzahlen in den Griff zu kriegen.“
Sie lobt die „super-tapferen Quereinsteiger“, die mit Anfang 40 noch mal neu anfangen, viel unterrichten, nebenher studieren und ihre Examina machen. „Diese fleißigen Männer und Frauen haben es wirklich verdient, dass sie von erfahrenen Kollegen respektvoll begleitet werden.“
Die vielen Leben der Giorgina Kazungu-Hass
Kazungu-Hass ist ein bunter Vogel. Sie wurde 1978 geboren, als Tochter eines Kenianers und einer Deutschen. Als junge Frau ist sie als Jazz- und Bluessängerin aufgetreten, hat als Schauspielerin gearbeitet und ein paar Musicals mit produziert. Das Geld, das sie damit verdiente, reichte gerade so, um sich ein Studium zu finanzieren und das Leben mit ihrem erstgeborenen Sohn, den sie zunächst allein erzogen hat. Sie absolvierte ein Volontariat als Journalistin im Bereich PR, bevor sie anfing, Deutsch und evangelische Theologie zu studieren, zunächst auf Magister. Nach einem Praktikum in der Schule hat sie dann gemerkt: „Das ist genau das, was ich machen möchte!“
In Rheinland-Pfalz gab es 2008 eine große Schulreform. Damals wurden die Realschulen und Hauptschulen zusammengelegt, viele neue integrierte Gesamtschulen gegründet. Kazungu-Hass hat vier verschiedene Schulen bei der Gründung unterstützt, drei staatliche Schulen und eine private Montessori-Schule, in der sie mit dem Geist der Reformpädagogik in Kontakt kam.
Sie ist abenteuerlustig, sie liebt das, was Experten gerne „interne Schulentwicklung“ nennen. In den 20 Jahren, in denen sie als Lehrerin arbeitete, hat sie Kinder von der ersten bis zur 13. Klasse unterrichtet und war als stellvertretende Schulleiterin tätig.
Abenteuerlust trieb sie in die Politik – und nach Berlin
Und wahrscheinlich war es diese unbändige Abenteuerlust, die sie auch dazu bewogen hat, als Abgeordnete zu kandidieren. Sie engagiert sich schon seit 25 Jahren in der SPD, war Juso-Landesvorsitzende, eine frühe Anhängerin der heutigen Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Und als sie irgendwann angesprochen wurde, ob sie nicht für den Landtag kandidieren wollen, hat sie zugesagt, weil sie sich überhaupt keine Chancen ausrechnete.
Als sie dann tatsächlich ins Parlament gewählt wurde, fiel sie aus allen Wolken und hat sich in der ersten Zeit ziemlich schwergetan, sich selbst als „Politikerin“ zu bezeichnen.
„Als Abgeordnete hat man einen großen Strauß an Themen. Man kratzt vieles an, aber man hat selten die Befriedigung, einen Arbeitsvorgang ganz zu Ende zu führen. Das ist natürlich eine sehr persönliche Sache, aber ich habe ein größeres Gefühl von Selbstwirksamkeit, wenn ich einen Jungen, der aus der Klasse rausgerannt ist, wieder dazu bewegen kann, zügig in die Klasse zurückzukehren und die Aufgaben gut zu machen. Dann habe ich am Ende des Tages das Gefühl, etwas geleistet zu haben“, sagt Kazungu-Haß.
Sie hofft, dass andere ihrem Beispiel folgen und aus anderen Berufen wieder zurückkehren in den Lehrerberuf in einer Zeit, wo jeder und jede Willige in den Klassenzimmern der Nation extrem gebraucht wird – um die Corona-Lücken zu schließen und die durch Corona geknickten Seelen wieder aufzurichten.
Ein hochachtungsvoller Blick auf die Eltern
Kazungu-Haß sagt, sie habe viele Chancen bekommen und alle Berufe, die sie ausgeübt hat, im Grunde gerne ausgeübt. „Man sagt ja: Alle Phasen haben ihr Leben. Aber ich glaube, dass im Beruf der Lehrerin für mich am meisten zusammenkommt. Wenn meine Schüler nach der fünften Stunde durchhängen, dann bin ich froh für jede Stunde, die ich auf der Bühne gestanden habe, damit ich sie mit einem packenden Lehrervortrag wieder aufwecken kann.“
Kazungu-Haß spricht voller Hochachtung von ihren Eltern, die beide aus kleinen Verhältnissen stammen und sich durch Bildung und Fleiß ein besseres Leben erstritten haben. Ihr Vater ist in Kenia neun Jahre auf eine Missionsschule gegangen und hat in Deutschland zunächst als Kellner gearbeitet – „so lange der Körper das hergab“. Heute lebt er mit einem guten Einkommen in der Schweiz.
Seine Tochter hat er von Anfang an ermutigt, gut Deutsch zu lernen. „Er hat immer Deutsch gesprochen mit mir. Und erst im Nachhinein verstehe ich, welche Mühe ihn das gekostet haben muss.“

Ihre deutsche Mutter war die erste in ihrer Familie, die eine Ausbildung gemacht hat, und zwar als Speditionskauffrau. In den Jahren vor der Rente war sie Dekanatssekretärin in einem IT-Studiengang an der Universität.
Wenn Bildung zu einem gelingenden Leben verhilft
Kazungu-Haß glaubt an die Kraft der Bildung. Und diesen Glauben will sie säen in die Herzen der Schüler, die in der Hans-Rosenthal-Grundschule nun vor ihr sitzen. „Es geht nicht um Geld. Es geht nicht darum, zu sagen, wenn ihr gut aufpasst in der Schule, dann verdient ihr später mal mehr“, sagt Kazungu-Haß leidenschaftlich.
„Es geht um das gelingende Leben, darum, dass man durch Bildung lernt, seine Umgebung zu verstehen und über sich selbst zu bestimmen“, sagt sie. „Und das zu ermöglichen, das ist doch das Schönste, wenn man das hinbekommt. Als Lehrerin hinbekommt – oder als Mutter.“





