Astrid Stock unterrichtet eine JüL-Klasse in der Grunewald-Grundschule. Wir treffen uns in ihrem Klassenzimmer sehr früh am Morgen, eine Dreiviertelstunde bevor die ersten Schüler an die Tür klopfen. Wir sprechen über Alphabetisierung in Zeiten von Corona und Sozialdarwinismus auf dem Schulhof.
Frau Stock, Sie leiten die Schuleingangsphase an der Grunewald-Grundschule. Ist es Ihnen gelungen, die Erstklässler in den Corona-Jahren gut zu alphabetisieren?
Ja, die Alphabetisierung ist sehr gut gelungen. Denn in unserer Klasse wurden die Kinder engmaschig von den Eltern betreut. Am Anfang habe ich den Eltern erklärt, wie sie mit unserem Lehrwerk arbeiten können, und habe für alle die Materialien kopiert, die sonst nur in der Schule zu finden sind. Und weil die Kinder ungewöhnlich viel zu Hause waren, habe ich auch mehr Leseaufgaben gegeben als üblich. Und deshalb war die Lesekompetenz dann sehr viel besser ausgeprägt als in den Jahren zuvor.
Also das Engagement der Eltern hat sich insofern ausgezahlt, dass die Kinder spürbar flüssiger lesen konnten?
Ja, natürlich machen wir in der Klasse auch Lesearbeit, und ich gebe auch viele Lese-Hausaufgaben. Aber oft klappt das nicht so gut, weil die meisten Eltern sehr mit ihren Berufen beschäftigt sind, die Kinder lange im Hort bleiben und nachmittags noch andere Termine haben. Aber nun war ja die ganze Familie zu Hause und die Eltern in meiner Klasse haben sich extrem intensiv um die Sechs- und Siebenjährigen gekümmert.
Gab es auch Ausnahmen, Kinder, die auf sich allein gestellt waren und dann im Verhältnis zu den anderen im Lesen und Schreiben zurückfielen?
Eigentlich nicht. Aber das liegt wahrscheinlich an dem besonderen Einzugsbereich unserer Schule. Aus Schulen mit anderen Einzugsbereichen habe ich ganz anderes gehört. Hier haben sich die Väter und die Mütter die nötige Zeit genommen, und der berühmte Corona-Hund ist auch noch dazugekommen.
Also kann man sagen: Dass die Corona-Zeit in diesem Teil der Stadt im gewissen Sinn auch eine Blütezeit des Familienlebens war?
Ja, und das habe ich sehr positiv empfunden. Dass die Familien mehr gekocht und mehr Spiele gespielt haben, häufiger rausgegangen sind in den Wald. Das hat den jüngeren Kindern sehr gutgetan.
Und deshalb ist die Alphabetisierung auch besser gelungen als früher?
Ja, das kann man sagen. Doch durch die 1:1-Betreuung zu Hause waren die Kinder nicht mehr gewohnt, selbstständig zu arbeiten. Und diese Mentalität, sich bei jedem Bisschen zu melden und zu fragen: Was muss ich hier machen? Anstatt sich die Dinge auch mal selber zu erlesen, diese Mentalität war sehr ausgeprägt. Und natürlich funktioniert das nicht in einer Klasse mit 26 Kindern.
Es hieß ja, dass die Alphabetisierung durch das Maske-Tragen sehr behindert und verzögert wurde. Weil die Kinder die Formung der Laute nicht mehr von den Lippen der Lehrerin ablesen konnten. Haben Sie das auch bemerkt?
Nein, in meiner Klasse gab es diese Probleme nicht, weil ich keine Maske getragen habe. Ich habe der Schulleiterin gleich am Anfang der Pandemie ein ärztliches Attest vorgelegt, dass mich vom Maske-Tragen befreit hat.
Hat das im Kollegium zu Konflikten geführt?
Ja, manche Kollegen haben von mir verlangen wollen, dass ich eine Maske aufsetze. Und als ich ein einziges Mal aus Versehen vergessen hatte, beim Sportunterricht im Winter die Fenster zu öffnen, ist eine Kollegin direkt zur Schulleitung gegangen und hat sich beschwert. Also, es wurden Fehler bei mir gesucht und gefunden.
Und wie haben die Kinder reagiert?
Auf einmal war es so, dass alle Kinder der Schule mich kannten. Das habe ich nie so erlebt: Ich war wie ein bunter Hund, ich war die Einzige, die Gesicht gezeigt hat. Die Kinder kannten ja keine Gesichter mehr. Und bei mir wussten sie: Ach, das ist die Frau Stock, die hat ein Gesicht!

Und haben die Schüler sich schwergetan, sich nach den Lockdowns wieder an die große Gruppe zu gewöhnen?
Ich habe das bei den Ausflügen gemerkt: Da war ich geradezu erschüttert zu Beginn des Schuljahres, dass die Kinder das überhaupt nicht mehr konnten: In Zweierreihen gehen, beim Überqueren der Straße auf den Verkehr achten, als Gruppe zusammenbleiben.
Als ob die Aufmerksamkeit für die Außenwelt abhandengekommen wäre?
Ja, irgendwie schon. Und natürlich waren die Kinder happy, sich wieder mit ihren Klassenkameraden unterhalten zu können. Beim Plappern geriet alles um sie herum in Vergessenheit.
Viele sagen ja, dass das Sozialverhalten der Kinder durch Corona sehr gelitten hat. Haben Sie das auch beobachtet?
Ja, allen Kollegen ist aufgefallen, dass es viel mehr Schwierigkeiten gab: Massive Ausgrenzungen einzelner Kinder, Boshaftigkeiten gegenüber vermeintlich Schwächeren. Und die vermeintlich Stärkeren haben ihre Stärke extrem ausgelebt …
Sozialdarwinismus auf dem Schulhof!
Ja, vor allem bei den Jungs, bei den Mädchen kamen die Probleme etwas später. Dieses Typische: Heute bist du meine Freundin, morgen nicht! Und wenn du jetzt mitspielen willst, musst du vorher das und das machen!
Und wie hat sich der Sozialdarwinismus bei den Jungs geäußert?
Verhaltensweisen, die ich vorher so noch nie erlebt hatte: dass Kinder erniedrigt und genötigt wurden. Da mussten ich und die Erzieherin immer wieder nachsteuern, einschärfen: Bitte seid fair! Seid freundlich! Verzichtet auf körperliche und verbale Gewalt! Alle Konflikte müssen auf ruhige Art gelöst werden! Auffällige Kinder wurden in der Pandemie noch deutlich auffälliger. Da musste richtig Sozialarbeit geleistet werden. Zum Glück hatten wir gerade eine neue Sozialarbeiterin an der Schule, die in den letzten beiden Jahren ordentlich zu tun hatte. Und nun hat sich das Verhalten Schritt für Schritt wieder gebessert.
Ist Corona noch Thema in der Schule?
Nein, und ich bin sehr froh, dass Corona im Moment kein Thema mehr ist. Dass die Kinder sich wieder frei bewegen und wir uns im Kollegium von Angesicht und Angesicht austauschen.
Das Gespräch führte Eva Corino.




