Deutscher Rockpionier

Wie mich Udo Lindenberg aus dem Tiefschlaf in der DDR holte

An seine Musik war hinter der Mauer nicht leicht ranzukommen, aber Ilko-Sascha Kowalczuk fand immer einen Weg. Eine Liebeserklärung nach fast 50 Jahren als Fan.

Ist einfach für die Bühne gemacht: Udo Lindenberg
Ist einfach für die Bühne gemacht: Udo LindenbergSven Simon/imago

Noch bis Ende August kann in der Rostocker Kunsthalle eine Ausstellung besucht werden, die einen schlichten Titel trägt: Udo Lindenberg. Damit ist eigentlich alles gesagt. Die Schau verspricht Einblicke in das „Udoversium“: Plattencover, Klamotten, Bühneninszenierungen, Fotos, Texte und nicht zuletzt Zeichnungen, Malereien und seine berühmten Likörelle – aus Alkohol angefertigte Aquarelle.

Ich bin Fan seit fast 50 Jahren, großgeworden hinter der Mauer mit „Andrea Doria“, „Bodo Ballermann“, „Votan Wahnwitz“, „Riki Masorati“, „Schneewittchen“, „Jonny Controlletti“, „Rudi Ratlos“, „Gerhard Gösebrecht“, „Mr. Nobody“, dem Mädchen aus Ost-Berlin, meiner Heimatstadt. Ich wollte unbedingt „Cello“ lernen, und natürlich „Nach London“, auf Udos „Reeperbahn“, „Hoch in den Norden“, „Tief in den Süden“, am besten per „Daumen in den Wind“.

Ich wollte „den ganzen Tag bei den Docks sitzen“, echte „Sympathie für den Teufel“ hegen, sehnte mich danach, „Immer noch verrückt nach all den Jahren“ zu sein. Ich freute mich auf die „Heizer“, hatte keine Angst vor den „Rockern“. Ich war dabei, wenn Udo als „Detektiv“ unterwegs war, über „Baltimore“, „New York“, den „Desperado“, das „Salty Dog“, „Die kleine Stadt“, „Norman Jean“, den „Amerikanischen Traum“ sang, „Born To Be Wild“ versprach und klagte: „Es reicht gerade noch zum Überleben“.

Ich war ein DDR-Teenager und sehnte mich danach, in einem Land zu leben, in dem diese Träume angstfrei erzählt werden dürfen: „Verdammt, wir müssen raus aus dem Dreck“. Und natürlich glaubte ich wie Udo daran, dass „Meine erste Liebe“ dann eben doch nicht platzen würde, glaubte an „Baby, wenn ich down bin“. Und als ich tatsächlich heiratete, Jahrhunderte später, sang Udo für uns: „Mit dir sogar 'n Kind“.

Ich hatte Glück. Als Udo 1973 die bundesdeutschen Bühnen eroberte und eine großartige LP nach der anderen vorlegte, war ich immer dabei. Denn ich hatte eine ältere Schwester, meine liebste Ghenia, die von Anfang an vom Udo-„Straßen-Fieber“ befallen war. Und Eltern, die aus irgendeinem Grund nicht nur nichts gegen den Jodelsänger hatten, sondern ihn irgendwie sogar mochten. Als es meiner Mutter Anfang der 80er mal nicht so gut ging, hatte ich nichts Besseres zu tun, als ihr „Sie ist 40“ vorzuspielen. Sie war 38 Jahre alt und schaute mich etwas ratlos an.

Als Udo dann im Oktober 1983 im Palast der Republik auftrat, war es mit meiner Euphorie vorbei.

Ilko-Sascha Kowalczuk

Meine Schwester und ich hatten aber noch mehr Glück. Denn wir lebten in Ost-Berlin und hörten samstags den Rias-Treffpunkt, in dem „Marc Bohlen aus Cottbus“ den „T. Rex aus Sömmerda“ grüßte und Lindenberg-Songs gespielt wurden, die meine Schwester eifrig mitschnitt. Alle machten das so, jedenfalls alle, die ich kannte. Auf den illegalen Plattentausch- und -kaufmärkten kursierten die neuesten Kataloge von Zweitausendeins. Ich konnte mir nichts davon leisten, aber ich hatte Freunde und Bekannte, die mir ihre Platten zum Überspielen liehen. Udos Platten waren in meinen „Archiven“ komplett vorhanden bis zu der Scheibe „Udopia“ (1981) und dem fantastischen Livedoppelalbum „Intensivstationen“ (1982).

Mein Held hatte sich der Zensur des SED-Staats gebeugt

Dann erlahmte mein Interesse, nicht an Udo, aber an seinen neuen Sachen, die mir nicht mehr so knackig und würzig, so originell und einzigartig vorkamen, bis auf Ausnahmen: „Ich bin beim Bund“, „Panik-Panther“, „Er wollte nach Deutschland“, „Bunte Republik Deutschland“ und, na klar, „Sonderzug nach Pankow“. Eine berühmte Platte hätte ich mir fast gekauft, lies es aber doch sein.

Das kam so: Im Intershop gab es 1980 das fantastische Doppelalbum „Livehaftig“, für 40 DM, so in etwa. So viel hatte ich nicht, arbeitete in Friedrichshagen am Müggelsee bei Nachbarn bei der Sanierung des Hauses mit, Drecksarbeit. Aber sie lohnte sich. Sie gaben mir Westknete, ich fuhr in den Intershop Invalidenstraße (der am besten mit Platten ausgestattete) und verlangte nach „Livehaftig“. Aber die Platte war keine „Gema“-, sondern eine „AWA“-Pressung, eine Ausgabe nur für die DDR-Intershops. Es fehlte der Titel „Sympathie für den Teufel“, Udos Adaption des Stones-Klassikers.

Ich war fassungslos. Mein Held hatte sich der Zensur des SED-Staates gebeugt. Noch in der letzten Udo-Biographie war das falsch zu lesen. Heute ärgere ich mich, diese DDR-Ausgabe nicht gekauft zu haben, sie fehlt in meiner Sammlung.

Als Udo dann im Oktober 1983 im Palast der Republik auftrat, war es mit meiner Euphorie ganz vorbei. Das war nicht mehr mein Udo, der Unbeugsame. Als er 1987 in Wuppertal Honecker am Rande seines Arbeitsbesuches in der Bundesrepublik traf, wurde es noch peinlicher. Nein, man kriecht vor Diktatoren nicht, auch nicht wegen der eigenen Fans, die ihr Idol so gern mal livehaftig erleben wollten.

Die Mauer war nicht hoch genug, um den Einfluss westlicher Subkulturen abhalten zu können. Das war ein Ärgernis für die Kommunisten – sie kamen gegen Rock ’n’ Roll, gegen Punk nicht an. Als Vaclav Havel 1990 seine Fans Mick Jagger und Keith Richards in Prag traf, verbeugten die sich vor dem Helden aus dem Untergrund. Der entgegnete: „Nicht ihr, wir hinter dem Eisernen Vorhang, haben euch zu danken. Denn den diktaturzersetzenden Einfluss eurer Freiheitssehnsuchtsmusik kann niemand überschätzen.“ Keine Ahnung, ob die Stones das verstanden haben.

Udo hat meinen Alltag geprägt, aber auch mein Denken als Teenie, mehr als jeder andere.

Ilko-Sascha Kowalczuk

Bevor die SED-Chefetage Udo einlud, im Palast der Republik zu spielen - was sie nur tat, weil der kürzlich verstorbene einzigartige Harry Belafonte sein Kommen nach Ost-Berlin daran geknüpft hatte, dass auch der „kleine Udo“ auftreten darf -, hatte sie erlaubt, dass das staatliche Plattenlabel Amiga eine Scheibe vom „Jodeltalent“ herausbringt. Das war 1982. Und ich war dabei, fuhr mit meinem Fahrrad und einem Freund von Friedrichshagen nach Köpenick in die Grünstraße, um mich kurz nach 13 Uhr bei dem privaten Plattenladen von Karl Jendrysik anzustellen. Ich war nie allein da. Kurz vor 15 Uhr, wenn der Inhaber seine Mittagspause beendete, standen oft 50, 100, manchmal auch Hunderte bis zum Ende der Grünstraße an, um zu sehen, ob es in dieser Woche eine Lizenzplatte, also eine mit Westkünstlern gab. Meist gab es nichts und wir zogen unverrichteter Dinge wieder ab. Aber 1982 gab es die Platte des Meisters.

Die Enttäuschung hätte nicht größer sein können. Es begann mit „Wozu sind Kriege da?“, ein Lied, das immer geht, aber es war kein Song dabei, der wehtat, keiner aus der Punkkiste, nicht einmal „Ich steh‘ ja so auf Disco“ war dabei. Und dann das Cover! Ein artiger Udo mit einem Disco-Glitzerhemd! Es war zum Fremdschämen: „Leider nur ein Vakuum“?

Ich kaufte die Scheibe dennoch, fuhr nach Hause, sortierte sie in meine Sammlung ein, legte eine andere Udo-Scheibe auf den Plattenteller und schaute das Amiga-Teil nie wieder an.

Als Udo im Oktober 1983 nach Ost-Berlin kam, war ich überzeugt, ihn in Friedrichshagen im Kreis einiger SED-Funktionäre zu sehen. Sie in ihren hässlichen Plastikanzügen, er in seiner udoischen Kluft: Hut, Lederklamotten, Panikschnalle, Jupiter-Schuhe. Oder war es eine Uda Morgana?

Ich gehörte nicht zu den Typen, die sich so verkleideten wie Udo. Ich hatte keinen Zugang zu abgefahrenen Klamotten und gab mein Geld lieber für LPs aus. Natürlich hingen bei mir auch Udo-Bilder herum. Einige meiner besten Freunde hatten mehr West- als Ostgeld, mehr West- als Ostverwandte. Die schenkten mir zuweilen Udo-Devotionalien; auch das einzige Farbfoto, das in der DDR von Udo herauskam, 1978 im Augustheft von „neues leben“, hing in meinem Jugendzimmer.

Meine Erweckungsmelodie: „Katze“

Ja, Udo hat meinen Alltag geprägt, aber auch mein Denken als Teenie, mehr als jeder andere. Ich würde gern behaupten, Wolf Biermann oder Vaclav Havel hätten meinen politischen Dämmerschlaf beendet und mich auf den Pfad der Freiheitssehnsucht geführt. Doch es war Udo, der mich aus dem Tiefschlaf holte.

Und das kam so: 1979 brachte Udo seine zweite Rock-Revue-Scheibe („Der Detektiv“) heraus. Der Rias legte eine „Lange Nacht des Udo Lindenberg“ ein, im Studio saßen bei Alkohol und viel Rauch mehr als 20 Paniker herum. Ich nahm die ganze Nacht auf Band auf, hörte sie mir immer wieder an, konnte bald jede Sequenz mitsprechen, war infiziert, wusste nur nicht, wohin mit dem Virus. Wenig später, 1980, kam „Panische Zeiten“ heraus. Eine jener Klassikerplatten, von denen viele bis heute nicht wissen, dass es sie gibt, aber jedes Stück kennen – sogar meine Mutter, nehme ich mal an. Und auf eben dieser Konserve gab es mein Stück, meine Erweckungsmelodie: „Katze“. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Lied in meinem Leben hörte. Seit dem Erscheinen sind knapp 16.000 Tage vergangen, also ein paar tausend Mal werde ich es schon geschafft haben. Damals hörte ich es täglich.

Doch manchmal gibt es Situationen
da musst du härter sein
wenn dein Alter dir seine Sprüche geigt
und immer sagt, du wärst noch viel zu klein
Sag ihm 'n schönen Gruß und so
er soll sich besser auskotzen auf'm Klo

Mädchen, ist das nicht tierisch
alle Menschen sind wie Katzen
Viele sind alberne Plüschfiguren
auf den Leisetretertatzen
Doch wir sind anders und wir passen nicht
in die Spielzeugabteilung und nicht in den Zoo
Wir sind die Freunde des Dschungels
und unser Song geht so:

Wir sind die Tiger, und eins ist klar
Käfige sind zum Ausbrechen da
Das ist mein Leben, und ich mach, was ich will
Das ist mein Kopf, und ich denk, was ich will
Ich bin ein Tiger, zähmen könnt ihr mich nicht
jeder, der das versucht
kriegt die Pranke voll ins Gesicht!

Lieber Udo, du hast viel Quatsch in deinem Leben gemacht. Ich glaube nicht einmal dir, dass du „Wieder genauso“ alles machen würdest. Deine Sauferei geht mich nichts an. Aber die Verherrlichung in so manchem Lied fand ich schon scheiße, bevor mein bester Freund Uwe, auch ein großer Fan von dir, am Suff zerbrochen ist. Und so manches Lied über Abenteuer und Hingezogenheit zu jungen, ganz jungen, zu jung jungen Menschen irritierten mich schon, als ich deine Lieder zu hören begann. Doch die politische Widerstandskraft, den Mut zum Aufbegehren, zum Nein-Sagen, zum Ich-Sagen, zum eigenen Weg gehen, haben mir deine Lieder, deine Katzen geebnet wie nichts und niemand sonst. Dafür danke ich dir nicht, dafür kannst du nichts. Aber dafür liebe ich dich – immer noch und immer.

Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist Historiker. 2019 erschien sein Buch „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“, in wenigen Wochen kommt seine Biografie „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ heraus.