Es ist Krieg, Menschen hungern, werden getrennt, weinen, fliehen und sterben. Und zur selben Zeit führen wir unser Leben mit seinen kleinen und großen Wundern, Beschwerlichkeiten, Lüsten, Problemen und Genüssen. Die Zeitung ist voller schlechter Nachrichten aus einer untergehenden Welt. Was soll da eine eher harmlose Kolumne zu abseitigen Fragen des menschlichen Verhaltens? Nochmal ausruhen und so tun, als wäre irgendwas normal?
Warum nicht? Es gab in Hunderten von Jahren noch keinen Tag auf der Erde ohne Krieg. Die meisten laufen unter unserem Radar ab und nur wenige finden unsere Aufmerksamkeit, bei noch wenigeren verbindet sich unser Empfinden mit den Opfern, fließt der Strom der Identifikation und Empathie. Das Leid der Betroffenen findet ein schwaches Echo in irrationalen Schuldgefühlen und rationaler Ohnmacht derer, die in der Ferne zuschauen. Und so nah wie jetzt kam uns der Krieg lange nicht. Es gibt Dinge, die man tun kann. Geld spenden ist vermutlich das Sinnvollste. Wichtig ist es auch, den Opfern zu signalisieren, dass man sie nicht vergessen hat, auch wenn man sie nicht retten kann. Dafür finden sich viele Wege, aber auch hier ist der Sinnvollste die Geldspende. Sie lindert die Not und das schlechte Gewissen.
Es dauert keine dreißig Sekunden, die entsprechende Seite aufzurufen, dreimal zu klicken, vielleicht noch sein Paypal-Passwort einzugeben oder die Überweisung mit dem Fingerabdruck oder einem Blick in die Kamera per Face-ID zu legitimieren, was dem technischen Vorgang sogar etwas Persönliches gibt. Danach könnten wir uns unseren eigenen Angelegenheiten widmen. Und doch sind wir Tag für Tag damit beschäftigt, uns zu informieren, Informationen zu verifizieren, verifizierte Informationen zu interpretieren und angesichts der Interpretationen von verifizierten Informationen unsere Emotionen zu bändigen. Und bei allem bleibt man ahnungslos. Was würde ich tun, was würde ich verlieren, wer würde mir helfen, wie könnte ich mich schützen, was sage ich dem Kind, wie fühlt es sich an zu kämpfen, zu hungern, zu schießen, gefoltert zu werden, die Angehörigen sterben zu sehen, Angst zu haben, im Schacht, auf dem Feld, im Keller, in den Ruinen? Wie stirbt man?
Der Luxus des eigenen Lebens wird einem bewusst, es gibt ein sicheres Bett, man weiß, wie man die Familie erreicht, kann überlegen, was man kocht. Nichts davon ist selbstverständlich. Alles kann man schon morgen verlieren. Wieso drehen wir nicht durch vor Angst? Wieso kriegen wir auch nur einen Bissen herunter? Wieso putzen wir noch unsere Zähne? Wieso machen wir Kinder? Wieso pflanzen wir Apfelbäume?
Verdrängung ist ein Segen für die Seele, wenn auch kein Trost. Der unbetroffene Mensch kann sich nicht ununterbrochen das Leid von anderen bewusst halten, er würde sich erschöpfen und in der Flut des Schreckens abstumpfen.
Ja, doch, abschalten ist erlaubt, ein Reset ist ab und zu nötig, ein Blick an die Wand, die einen schützt, ein Atemzug in sauberer Luft, ein Griff nach seinem Nächsten, der einen liebt, ein Scherz, der die festgezurrten Gedanken für einen Augenblick löst.


