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ZDF-Serie „Gestern waren wir noch Kinder“: Jedem sein Trauma

Aus heiterem Himmel tötet ein Familienvater seine Frau, fortan werden Schicksalsschläge aufeinandergestapelt. Mitgefühl weckt das bedingt.

Vivi Klettmann (Julia Beautx) besucht ihren Vater Peter Klettmann (Torben Liebrecht) im Gefängnis. Er hat Vivis Mutter ermorde
Vivi Klettmann (Julia Beautx) besucht ihren Vater Peter Klettmann (Torben Liebrecht) im Gefängnis. Er hat Vivis Mutter ermordeZDF /Walter Wehner

Ein Mädchen in Schuluniform humpelt weinend durch eine nächtliche Großstadt. Sie kann immer noch nicht fassen, was am Vormittag passiert war: Ihr Vater hatte ihre Mutter an deren 44. Geburtstag in der Küche erstochen. Im Gefängnis beginnt er, einen Brief an die Tochter zu schreiben: „Als ich so alt war wie Du, hatte ich schon vier Menschen auf dem Gewissen.“

Um Schicksal, Schuld und Sühne dreht sich die ZDF-Serie „Gestern waren wir noch Kinder“, insgesamt fünf Stunden lang. Erdacht und produziert wurde sie von einer Frau, die im ZDF sonst für romantische Momente sorgt. Von Natalie Scharf stammt die Reihe „Frühling“, die seit über zehn Jahren sonntags als Pendant zum ARD-„Tatort“ läuft, mit Titeln wie „Genieße jeden Augenblick“, „Liebe hinter geschlossenen Vorhängen“ oder „Mit Regenschirmen fliegen“. In der Hauptrolle ist Simone Thomalla als patente „Dorfhelferin“ zu erleben, die in den ersten Jahren parallel noch eine „Tatort“-Kommissarin spielte. Produzentin Scharf geht quasi den umgekehrten Weg: von der „Frühlings“-Leichtigkeit zum schweren Familien-Thriller.

„Gestern waren wir noch Kinder“: Trigger aus der Kindheit

Als Anregung für ihre neue Serie benennt sie Erinnerungen an ihre Kindheit. Der Vater von Natalie Scharf war Psychiater in einer „Nervenheilanstalt“, die Familie wohnte auf dem Gelände – so wie die Familie von Joachim Meyerhoff, der seine Erlebnisse als Buch und Bühnenstück verarbeitet hat. Natalie Scharf berichtet allerdings nicht autobiografisch, sondern wollte eine Serie kreieren, deren Helden die Kontrolle über sich selbst verlieren. „Mich faszinierte die Idee, bei Protagonisten wie auch Nebenfiguren das Trauma und den Trigger ihrer Kindheit in den Fokus zu stellen“, erklärt sie im ZDF-Begleittext.

Die Familie Klettmann, die in einer Villa im Grünen wohnt, ist vom Schicksal wirklich schwer gebeutelt. So hatte der Mann, der als Abiturient im Rausch versehentlich den Unfalltod von vier Menschen verursachte und der 25 Jahre später seine Frau ersticht, als Kind schon seine Schwester verloren. Sie starb nach einem Bienenstich, die Mutter (Karoline Eichhorn) kam über das Trauma nicht hinweg. „Heide, du gehörst in die Klapse!“, schrie der Vater (Ulrich Tukur) irgendwann, und dort lebt sie auch nach der Verhaftung ihres Sohnes (Damian Hardung) noch, während der extrem unsensible Gatte schon längst gestorben ist – natürlich nicht auf natürlichem Wege. 

„Gestern waren wir noch Kinder“ kreist um die Annahme, dass sich „düstere Geheimnisse“ über Generationen vererben, weil ihre Unterdrückung immer neue Dramen auslöst. Erzählt wird verschachtelt in mehreren Zeitebenen. So wird das aktuelle Geschehen nach dem Tod der Mutter (Maria Simon) aus der Perspektive ihrer Tochter, der Abiturientin Vivi (Julia Beautx), weitergeführt. Parallel werden in Rückblenden die Stunden vor der Tat eingeblendet. In den Erinnerungen des inhaftierten Vaters (Torben Liebrecht) werden die dramatischen Geschehnisse um seine Abiturfeier lebendig – die Frau, die er später ersticht, war damals eine Schulfreundin Anna (Rieke Seja). Mit ihr bekam er drei Kinder, was den Vater zur Bemerkung veranlasst: „Ihr vermehrt Euch ja wie die Karnickel!“

ZDF-Serie arbeitet mit Influencerin: Julia Beautx soll ein junges Publikum anlocken

Die Probleme der Serie bestehen nicht nur darin, dass sie Schicksalsschläge nach dem Motto „Darfs noch ein Trauma mehr sein?“ pfundweise aufeinanderstapelt, Gefühle aufdringlich mit Pop-Hits verstärkt und Konflikte oft in platte Dialoge übersetzt. Es fällt vor allem schwer, Mitgefühl für irgendeine Figur zu entwickeln. So wird Vivi als eine arrogante Zicke eingeführt, die über ihre Mitschülerinnen am noblen Privatgymnasium herzieht. Gespielt wird sie von Julia Beautx – so nennt sie sich auch als Influencerin in den sozialen Medien, wo sie mit Schönheitstipps und Musikvideos Millionen Followerinnen hat. Mit der Besetzung spekulieren Produzentin Natalie Scharf und das ZDF natürlich auf eine jüngere Zuschauerschaft. Julia Beautx, auch schon in der „Frühlings“-Reihe zu sehen, beweist hier, dass sie nicht nur posieren kann – doch einen fünfstündigen Mehrteiler tragen kann sie nicht.

Schauspielerisch zeigt die Serie einige Unwuchten. So taucht die starke Maria Simon in der Rolle der Erstochenen erst in den späten Rückblicken wieder auf, auch Peter Schneider als Marias früherer Verehrer hat nur Kurzauftritte. Ulrich Tukur gefiel sich offenbar als zynisch-despotischer Patriarch – in solch einer eindimensionalen Rolle ist er selten zu sehen. Den größten Spielraum bekommt Julius Nitschkoff als junger Polizist, der anfangs zum sterbenden Opfer gerufen wird und von Anna den letzten Satz zugestöhnt bekommt: „Kümmere Dich um meine Kinder!“ Später wird deutlich, dass er die Frau schon länger kannte – und indem er die Tochter Vivi bei sich aufnimmt, bekommt die Serie streckenweise sogar Anflüge eines Thrillers. Doch keine Figur ohne Trauma: Polizist Tim hatte als Kleinkind seiner Mutter, einer Prostituierten, bei der Arbeit zusehen müssen – das prägt natürlich sein Liebesleben für immer.

Gestern waren wir noch Kinder. Mo.–Mi., 9.–11.1. jeweils 20.15 Uhr im ZDF, als siebenteilige Serie in der ZDF-Mediathek