Ufuk Tan Altunkaya ist homosexuell und zurück nach Deutschland gekommen, weil er hier seinen Freund heiraten darf und mithilfe einer Frau Vater werden und in Co-Elternschaft leben kann. Kay Garnellen trägt Vollbart und Iro, war mal eine Frau, lesbisch, ließ eine Hormonbehandlung vornehmen, sich aber nicht umoperieren, wie wir später sehen können, wenn er sein Röckchen herunterzieht – er hat zusammen mit zwei weiteren queeren Personen ein Kind. Alice Gedamu ist lesbisch, verheiratet mit Nyemba M’Membe und möchte, wie es bei heterosexuellen Partnern üblich ist, auch ohne biologische Elternschaft als Mutter von deren Kind eingetragen werden, statt es adoptieren zu müssen.
Cochon will nicht menstruieren
Sandra Ruffins hat sich künstlich befruchten lassen, hatte eine Fehlgeburt, bei der ihre Gebärmutter schwer beeinträchtigt wurde, sodass weitere künstliche Befruchtungen nicht gelangen und vielleicht nie gelingen werden. Millay Hyatt kam bereits mit Anfang 30 in die Menopause und konnte erst zehn Jahre später ein Kind zur Pflege annehmen, weil ihr Mann für eine Adoption schon zu alt war und mehrere internationale Versuche nach Verzögerungen scheiterten; nun hat sie sich getrennt, und laut Pflegegesetz gilt nur derjenige, der verlassen wurde, als Pflegeelternteil. Und dann ist da noch Cochon de Cauchemar, die sich Nympho-Ménage nennt und ihre Dienste als „Freakitsch Art Director & Domestic Dominator“ anbietet (bitte googeln Sie selbst). Sie will keine Kinder, will auch nicht menstruieren, darf sich aber nicht sterilisieren lassen.
All diese Menschen treten in Lola Arias’ „Mother Tongue“ (Muttersprache) auf, mit dem das Gorki am Sonntag seine Spielzeit eröffnete. Sie erzählen in wenigen Sätzen ihre Geschichten, die jede für sich ausreichend Stoff für eine mehrstaffelige Netflix-Serie böte. Dass sie sich öffentlich zu ihrer Geschichte bekennen, gehört zum politischen Anliegen dieser Theaterproduktion, die in anderen Versionen schon in Italien und Spanien zu sehen war. Damit wird klargemacht, dass Mutterschaft politisch ist, dass kulturelle Tabus und Zuschreibungen noch immer als Naturgesetze verstanden und hingenommen werden und Staaten in die Gebärmutter hineinregieren.
Das ist kein neuer Gedanke, wie ein Filmausschnitt aus den Siebzigern zeigt, in dem Alice Schwarzer als TV-Reporterin von einer Abtreibung berichtet, neben einem Gyn-Stuhl sitzend, während einer Frau der Absaugschlauch eingeführt wird. Es geht darum, Vorhänge wegzuziehen und Rechte einzufordern.
Es ist ein kraftvoller, sympathischer, tief ins Herz fahrender und auch humorvoller Dokumentartheaterabend, bei dem man, wie schon so manches Mal im Gorki und insbesondere bei der argentinischen Theater-, Filme-, Bücher- und Musikmacherin Lola Arias, etwas vom Empowerment-Schwung abbekommt und in aktivistische Mittäterschaft gezogen wird. Etwa wenn Slogans gemeinsam mit dem Publikum gefeiert werden oder wenn nach einem Zuschauer gefragt wird, der eine Verbindung ins Justizministerium hat.
Drama Fortpflanzung
Das Ganze ist als eine Enzyklopädie aufgezogen und findet in einer Art liebevoll bestücktem Naturkundemuseum (Bühne: Mariana Tirantte) statt, was als Rahmen nicht weiter stört, aber auch nicht nötig gewesen wäre. Die mitunter etwas hastig montierten Statements, Spielszenen, Musik- und Tanznummern sind in Kapitel unterteilt, die die individuellen Erfahrungen sammeln, ordnen und teilbar machen: Es geht um sexuelle Aufklärung, Kinderwunsch, Abtreibung, Geburt, Reproduktionsarbeit, Familie und Bürokratie. Aber das eigentliche Theater findet in den Gesichtern dieser Menschen statt, die einen so nah an sich heranlassen, mit ihren Geschichten beschenken und beladen, teilhaben lassen an ihren Zweifeln und Wünschen.
Es sind Freunde, Verwandte, Schicksalsgenossen und Mitstreiter da, es gibt Szenenapplaus und am Ende Standing Ovations für den Mut zum Bekenntnis und für den Mut, das Lebensglück für sich und das Kind zu suchen und es auf eigenes Risiko und das Risiko des Kindes durchzusetzen gegen die brutalen Widerstände der Vorurteile und Gepflogenheiten. Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, Eltern zu werden oder sich dagegen zu entscheiden. Die Fortpflanzung ist auch unter heteronormativen Bedingungen ein dramatischer, lebensverändernder, nicht bis ins letzte Detail zu kontrollierender und legalisierender Vorgang, bei dem man viel falsch machen und Schuld auf sich laden kann und ganz allein vor tragische Entscheidungen gestellt wird. Es gehört zum Leben und also auf die Bühne.



