Ein Zauberreich war Prosperos Welt immer. Schon als Herzog von Mailand beschäftigte er sich lieber mit dem Übersinnlichen als mit den realen Mächten nebenan. Was zweifellos geistreicher war als das Regieren, aber vor den Ränken der Wirklichkeit auch nicht schützte. Skrupellos nutzte sein Bruder Antonio das Machtvakuum aus und riss die Regentschaft an sich, ließ Prospero entführen und auf dem Meer aussetzen.
Das alles ist zwölf Jahre her, als Shakespeare sein rätselhaftes Zauberstück „Der Sturm“ um den gescheiterten Souverän ansetzt. Das Meer hat ihn nicht verschluckt, sondern an eine Insel geschwemmt, auf der eben doch feinstoffliche Magie mehr Wert ist als harte Politik und wo er nun herrschen kann über Luftgeister und Erdwesen. Und bald auch, dem Zufall sei Dank, über die böse Realgeschichte selbst. Denn als plötzlich ein Schiff mit den brüderlichen Potentaten aus Neapel und Mailand vorbeischippert, erwacht der Rachegeist in Prospero: Er zaubert Wind herbei, lässt das Schiff kentern und rettet die königliche Besatzung in seinen Bann. Wiederholt sich die Geschichte nun? Dreht sich die Macht nur ein Mal im Kreis und wird der gestrandete Herrscher zum Potentaten über die herrschaftlichen Gestrandeten?
Keine Rache, sondern Umkehr
Als in den Kammerspielen der Sturm aufheult, stiert aus Wolfram Kochs schwarz umschminkten Augen selbst das blanke Grauen. Weisheit und Magie durchströmt diesen Prospero nicht, nur Verbitterung und Gewalt. Und Koch, der illusionsloseste Narr unter den Schauspielern, mit strähnigem Haar und kaputtem Anzug gibt ihm eine abgerissene, gebeutelte Gestalt, die nur noch Scheitern mit sich trägt, das grausam und sarkastisch macht. Ein böser Alter also, um dessen „KUnst“ (immer mit großem U gesprochen) es auch nicht gut steht. Denn die alte Welt dahinter ist zerbrochen. Keinem Fingerschnipp folgt mehr einfach, was es soll: Das Bühnenlicht bleibt dunkel. Wäre nicht der fleißige Luftgeist Ariel (Lorena Handschin), der im glitzernden Mini der eigentliche Star der Insel ist – das Rachedrama könnte nie stattfinden.
Nun stürmt und kracht es also und der tyrannische Prospero steht mit aufgerissenem Mund da, blickt über die Zuschauerköpfe hinweg und leidet doch mit dem Hörspiel des Schiffbruchs wie ein Hund. Er leidet auch an seinem eigenen Plan und bleibt doch unerbittlich. Denn tatsächlich will er keine Rache, vielmehr Umkehr durch Einsicht und Vergebung. So jedenfalls steht es bei Shakespeare.
Zwischen Zauberwelt und Bühnenwelt
Der Regisseur Jan Bosse aber und der Autor Jakob Nolte, der den „Sturm“ in ein absurd wortgetreues, heillos verklausuliertes Halbdeutsch neu übertragen hat, blicken skeptischer auf die flirrende Moral dieses seltsamen Revanchespiels. Denn hier gibt es gar kein wahres, ungebrochenes Leben mehr, keinen Fluchtpunkt, nirgends, weder in der falschen Zauberwelt Prosperos noch im doppelbödigen Mailand noch in der Bühnenwelt selbst, die sich als Verbindung beider durch alles zieht. Alle ringen um Selbstermächtigung, Macht, doch selbst die eigene Sprache bleibt unbeherrschbar fremd. Am Ende kehrt eine Schar ohnmächtiger Machtbesessener heim, Zwangsneurotiker, gefesselt in Hüllen von sich selbst und der Welt, für die der Bühnenbildner Stéphane Laimé mit einer wild aus dem Bühnenboden hängenden Takelage, fantastisch vielgestaltige Bilder gefunden hat.

Zwar feierte die Produktion bereits im Juli in Bregenz Premiere, doch gibt sie mit ihrer bös-clownesken Illusionslosigkeit nun auch in Berlin eine Saisoneröffnung, die bestens hineinpasst ins Zwanghafte dieser Zeit. Und die zugleich ein starkes Pendant liefert zu der zweiten DT-Premiere von Sebastian Hartmann, der zusammen mit dem Musiker PC Nackt ein seltenes Musiktheater aus Max Stirners philosophischem Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ fabrizierte.
Kleine Gesamtkunstakrobatik
Anders als bei Shakespeare hat die Spuk- und Geisterwelt bei Stirner keine Chance mehr. Denn gerade ihm, dem Geistigen, sagt der Junghegelianer und Idealismuskritiker Stirner 1844 den Kampf an. Weg mit den Ideen und Begriffen, mit dem Allgemeinen überhaupt – weg mit „Staat“, „Religion“, „Humanismus“ – das den Einzelnen nur einsperrt und entmündigt! Ein freier Mensch, so Stirner, ist nur der, der auf nichts baut als auf sich selbst. Den rohen Einzelnen, der sich die Welt aneignet, nicht nur denkt. Dass diese Befreiung geradewegs auch in ein faschistisches Gewalt-Ich führt, verhehlt er nicht, und auch Sebastian Hartmann mag gerade diese schillernde Spiralbewegung der Gedanken besonders gereizt haben.
Auf der großen Bühne dreht sich dazu eine Art Tatlin-Turm, auf dem die sechs tollen DT-Schauspieler zunächst wie schwarze Magritte-Männchen mit Anzug und Melone zu minimalistischen Elektrorhythmen auf und ab trippeln. Langsam dreht es sich von der Uniform zur Subjektwerdung und zurück: Aus den verhuschten Männchen werden reflektierende Einzelne im Divenlook und schließlich grölende Rudelwesen in Pogromstimmung. Sie singen und rezitieren mäandernde Satzfetzen aus Stirners 400-Seiten-Schinken zum sphärisch antreibenden Sound des Pianisten und seines Schlagzeugers. Eine intensive, kleine Gesamtkunstakrobatik in Sachen Freiheit und Egoismus ist daraus entstanden, die der aufgeblähten 3D-Videos mittendrin gar nicht bedurfte. Trotz Düsternis ein geistreicher, lohnender Spielzeitbeginn im DT, der letzte für Ulrich Khuon als Intendant.
