Theater

Echte Nazis und virtuelle Pädos: Spielzeitbeginn am Berliner Ensemble

Ob in Lion Feuchtwangers „Exil“ oder in Jennifer Haleys „Netzwelt“: Wie der Mensch sich abstrampelt, um seiner Verantwortung zu entkommen.

„Exil“ von Lion Feuchtwanger, Regie: Luk Perceval
„Exil“ von Lion Feuchtwanger, Regie: Luk PercevalJörg Brüggemann

Der Roman „Exil“, der dritte Teil von Lion Feuchtwangers „Wartesaal“-Trilogie, war, als er rauskam, zugleich ein prophetischer und ein historischer Roman. Er spielt im Jahr 1935 in Paris und erschien 1939, als der Zweite Weltkrieg begann und alles umwarf, was bis dahin galt und worauf man wartete und hoffte.

Der im Exil lebende Feuchtwanger, dessen Bücher die Nazis mit als erste ins Feuer warfen, sah die Katastrophe heraufziehen. Er reiste in die Sowjetunion, lobte die dortigen Lebensverhältnisse und feierte Stalin als einen „großen Organisator, Rechner und Psychologen“ und als „ins Genialische gesteigerten Typus des russischen Bauern und Arbeiters“. Sein Buch „Moskau 1937“ ist ein propagandistisches Werk, mit dem Feuchtwanger die Sowjetunion als Alternative zum Nationalsozialismus aber auch zur kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft hinstellte. Und wenn man die Figuren aus „Exil“ so ansieht, dann wird einem klar, dass von solchen, auf ihren eigenen Vorteil bedachten oder politisch naiven Bürgern kein Fortschritt zu erwarten ist.

Ein Eiffelturm aus Holzstühlen

Luk Perceval, der immer milder werdende Regisseur, der in Berlin von der Schaubühne an den Schiffbauerdamm gewechselt ist, stellt diese Menschen weitgehend unkommentiert auf die Bühne, am Sonnabend war Premiere. Sie wandeln durchs Arrangement, sprechen in Mikroports, wechseln zwischen Dialog, innerem Monolog und epischem Text, was durch verschiedene Arten der Tonabnahme abgebildet wird. Die von Annette Kurz gestaltete Bühne ist mit mehreren hundert Holzstühlen vollgestellt, die zu Beginn noch zu einer Art Eiffelturm aufgestapelt sind und im Laufe des gut dreistündigen Abends immer mehr durcheinander geraten. Dazu kommen zwölf Statisten, die den Raum je nach Bedarf mit menschlicher Masse und Geschäftigkeit anfüllen.

Der Roman wurde für die Bühnenfassung auf ungefähr ein Zehntel des Umfangs gekürzt, ohne dass ein Gefühl von Tempo entstehen würde, es geht sogar viel an Dringlichkeit verloren. Es wird in wohlgesetzten Worten und manchmal auch im Dialekt reflektiert, geklagt und argumentiert, während die Handlung so schnell durchflutscht, dass man ihr schwer folgen kann.

Der Mensch ist immer noch der alte

Im Zentrum ruht in bräsiger Selbstgewissheit der Bayer Trautwein (Oliver Kraushaar), den es aus München nach Paris verschlagen hat. Er schreibt, um das spärliche Auskommen zu verbessern, Musikkritiken für das Exil-Blatt Pariser Nachrichten, rutscht dann, als ein Redakteur von den Nazis nach Deutschland entführt wird, auf dessen Posten vor und verbindet seine journalistische Tätigkeit mit dem Kampf für die Befreiung dieses Mannes. Sein politischer Aktivismus bringt dem Opfer nicht viel, aber Trautwein doch Anerkennung und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Sinnvolleres jedenfalls, als weiter an seinem Oratorium „Die Perser“ und an seiner Karriere als Komponist zu arbeiten. Dafür opfert sich seine Frau Anna auf (Pauline Knof), die als Zahnarzthelferin schuftet, die Bruchbude reinhält, in der die kleine Familie mit dem 18-jährigen Hanns (Jonathan Kempf) haust, und mit Mäzenen flirtet, während Trautwein mit der Sekretärin Erna Redlich (Lili Epply) ein Liebesverhältnis eingeht. Der Hauptwidersacher ist der Frankreich-Korrespondent und Nationalsozialist Erich Wiesener (Marc Oliver Schulze), der mit der Jüdin Lea de Chassefiere (Constanze Becker) liiert ist, mit der er einen Sohn (Paul Zichner) hat.

Zwischen dem Roman und uns liegt der Zivilisationsbruch des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs – aber über die Brüche und Systemwechsel hinweg, auch angesichts der heutigen Krisen, der drohenden und eintretenden Katastrophen, ist der Mensch noch immer der alte.

Szene aus „Netzwelt“ von Jennifer Haley: Papa (Nils Holonics) und die virtuelle neunjährige Iris (Philine Schmölzer)
Szene aus „Netzwelt“ von Jennifer Haley: Papa (Nils Holonics) und die virtuelle neunjährige Iris (Philine Schmölzer)JR Berliner Ensemble

Was ist das aber auch für eine Zumutung, dass alles, was man tut, Folgen für andere hat und mithin in die Geschichte einfließt? Das Stück „Netzwelt“ (2012), das am Freitagabend in der Regie von Max Lindemann im Neuen Haus des Berliner Ensembles Premiere hatte, versucht Handeln und Schuld voneinander zu trennen. Die amerikanische Dramatikerin und Netflix-Autorin Jennifer Haley entwirft darin ein Szenario, das nicht fern in der Zukunft spielt, auch wenn die Erinnerung an den letzten echten Baum schon so weit zurückliegt, dass eine Figur nicht mehr recht entscheiden kann, ob es vielleicht doch nur das Bild von einem Baum ist, an das sie sich erinnert.

Die Netzwelt hat sich weiter emanzipiert, das Leben in der materiellen Wirklichkeit ist teuer und verschwendet Ressourcen, das gilt auch für die lebenserhaltenden Maßnahmen mit denen die Körper, deren Besitzer dauerhaft in die Netzwelt eintauchen, frisch gehalten werden. In der Netzwelt hingegen kann man jede Identität annehmen und in einer neuen Rolle mit anderen interagieren, ohne ihnen in irgendeiner Weise verpflichtet zu sein.

Handeln ohne Folgen

Ein Mensch mit dem Nicknamen Papa (Nico Holonics) hat seinen sexuellen Neigungen entsprechend eine Domaine entwickelt, auf der sich pädophile Erwachsene mit Erwachsenen treffen können, die sich als Kinder ausgeben und virtuell missbrauchen lassen. Die Technik ist so fortgeschritten, dass auch taktile und olfaktorische Reize übertragen und ausgetauscht werden können, die Version der Welt, in die man sich einloggt, lässt sich mit den Sinnen von der echten also nicht unterscheiden. Nur dass in der Netzwelt die Opfer von Missbrauch, Gewalt und Lustmord bei der nächsten Session wieder heil zur Verfügung stehen.

In dem kriminalistischen Kammerspiel, das in 15 Sprachen übersetzt wurde, werden die damit einhergehenden ethischen Verwicklungen eher aufgezählt als aufgedröselt, in Verhören und Dialogen eher reflektiert als durchgespielt. Das Statische jener Netzwelt, in der es keine echte Entwicklung und also auch keine Dramatik gibt, überträgt sich dabei auf das Stück, dessen Clou darin besteht, dass das Publikum vor den Figuren weiß, welcher Avatar zu welcher Figur gehört.

Ethisches Gehuddel

Das Setting der BE-Inszenierung besteht in einem niederschmetternd neutralen Verhörraum (Robin Metzer) mit einer laborartigen Nische, in der die virtuellen Begegnungen unter aseptischen Bedingungen stattfinden. Emotional einsteigen kann man nicht. Das Blut, das vergossen wird, ist nicht rot, sondern schwarz wie Druckertinte. Die Behauptung, dass die Figuren und ihre Avatare überkreuz und unbeabsichtigt echte Beziehungen miteinander eingehen, die irgendwie tiefer reichen als Oberflächenreize, lässt sich nicht nachvollziehen – und infolgedessen sitzt man auch unbeteiligt vor den hergezeigten Ausbrüchen, die bei den Schauspielern so technisch wirken, als würde es sich um nicht ganz lebensechte Roboter handeln.

Ohnehin fragt man sich, ob das herkömmliche Leben noch lange tragbar ist. Ob man nicht bald seine Identität in eine Sphäre hochladen kann, wo man sich ungestört von der Wirklichkeit und der Verantwortung für seine Mitmenschen irgendwelchen KI-generierten Labungen hingeben kann. Wozu überhaupt noch Interaktion und ethisches Gehuddel? Kann das nicht einfach alles der Rechner übernehmen? 

Exil 11. Sept., 8., 9., 22., 23. Okt.; Netzwelt 23.-25. Sept, 7., 8., Okt. Karten unter Tel.: 20408155 oder berliner-ensemble.de