Florentina Holzinger, geboren 1986 in Wien, merkt man ihr Choreografiestudium der School for New Dance Development in Amsterdam oder das, was man sich darunter vorstellt, nicht unbedingt an. Sie hat die Mittel für ihr Schmerz- und Sporttheater eher beim Zirkus oder bei Stunt- und Freakshows gesammelt. Möglicherweise beruht ihr Erfolg auch darauf, dass sie die Konzeptlastigkeit des zeitgenössischen Tanzes unterläuft, alle Reflexionsebenen herausreißt und wieder bei der Überwältigung durch Akrobatik, Erotik und dem Spiel mit der Gefahr ankommt.
Sie spricht wie eine Sportlerin, denkt und spielt mit dem Körper und seinen Grenzen. Sie trainiert, wenn sie probiert. Sie sucht nach dem Nervenkitzel, boykottiert jegliche Scham, fürchtet keine Brutalität. Was für ein unerschütterliches Selbstbewusstsein! Und dennoch merkt man ihren Arbeiten eine große Zärtlichkeit und verlässliche Liebe für ihre und unter ihren schwesterlichen Mitspielerinnen an, oft geht es fröhlich, angriffslustig und übermütig zu, dann wieder teilen sie ihre Schmerzen und ihre Trauer. Wenn eine von ihnen zum Weinen gebracht werden sollte, dann wird sie an einer vertrauensvollen Hand hindurchgeführt. Der Trost dieser Zuwendung ist es wohl, die einen für ihre Kunst immer wieder einnimmt.
Denn andererseits quält Holzinger nicht nur die Spielerinnen und das Publikum, sondern auch das Theater selbst. Die Abmachung zwischen Bühne und Parkett wird ausgehebelt, und auch die Rücksichten, die der Betrieb, das Budget und die Administration verlangen, werden ausgereizt. Holzinger arbeitet am liebsten frei, nennt ihre erste Stadttheatererfahrung an den Münchner Kammerspielen ernüchternd. Wenn es ein Repertoirehaus im deutschsprachigen Raum gibt, das leistungsfähig, überforderungs- und experimentierwillig genug ist und ein entsprechendes Publikum versammeln kann, dann die Volksbühne.
Mehr geht nicht, ist ein Gedanke, der einem bei Florentina Holzinger öfter kommt und dann bald mit ziemlicher Sicherheit widerlegt wird. So auch bei „Ophelia’s Got Talent“, einer fast dreistündigen Wassershow, die am Donnerstag die zweite René-Pollesch-Spielzeit eröffnet. Während man also schon wieder mal „mehr geht nicht“ denkt, senkt sich mit ohrenbetäubendem Lärm ein echter gelber Hubschrauber aus dem Schnürboden herab.
Ein Helikopter stürzt ins Schwimmbecken
Das Flugobjekt drückt die nackten Darstellerinnen mit seinen Landungsabwinden erst fast auf die Bretter, zieht sie dann wieder mit in die Höhe, wo sie ihn wie einen metallenen Riesenphallus besteigen, zwischen die Schenkel nehmen und mit ekstatischen Beckenbewegungen aus dem Rhythmus und in eine Schieflage bringen. Die Ringtraverse fährt am weiten Rundhorziont der Volksbühne herab und schickt Stroboskoplichtwirbel durch die sich abregnenden Wolken, sodass man die fehlenden Rotoren zu sehen glaubt, auch wie sie splittern und brechen und das Vehikel schließlich mit ächzendem Krachen ins Schwimmbecken stürzt. War es das? Nein.
Die kleinwüchsige Performerin Saioa Alvarez Ruiz wird aus dem Cockpit gehoben, sie hatte an diesem Abend schon so einiges zu leisten: bekommt live einen kleinen Anker auf den Hintern tätowiert, reißt sich als Klempner bei einem Striptease mit Pümpel und Spirale – Gerätschaften, mit denen man verstopfte Abflüsse reinigt – den Blaumann vom Leib. Nun trägt sie einen runden Babybauch, der ihr, weil ihr Unterleib sich in einen Fischschwanz verwandelt, aufgeschnitten werden muss – die Kamera ist bei solchen Gelegenheiten stets nah dran.
Die letzte Generation
Im Nabelschnur- und Darmgekröse findet sich ein funktionstüchtiges Feuerzeug, mit dem die Bühne in Brand gesetzt wird. Nach einer traumverwirrten Nacht ist dem Berichterstatter nicht mehr ganz sicher erinnerlich, ob das Kinderballett mit den Haifischflossen vorher aufgetreten ist, wofür die vielen abgerissenen Gliedmaßen sprechen würden, die im blutrot gefärbten Wasser herumschwimmen, und ob der Regen mit den Tausenden aus dem Himmel niedergehenden PET-Flaschen noch danach kam. Aus der Tauchermaske von Neptun, der in einem Aquarium seitlich Wache hält, steigen da jedenfalls schon seit einer Weile keine Sauerstoffbläschen mehr auf.
Die Bilder kommen durcheinander: Stepptanz- und Cancanchoreografien mit fliegenden Beinen, lustig hüpfenden Brüsten und Gesäßbacken; fingerlange Angelhaken, die – wieder in Großaufnahme – live durch die Wangen von zwei Darstellerinnen gestochen werden; ein Schlüsselchen, das von einem Schwan aus der Gebärmutter eines vergewaltigten Mädchens operiert wird; die freiwillige Zuschauerin aus Reihe fünf, die passend zu Schillers Ballade „Der Taucher“ nackt in den Fluten ertrinkt; die lebenden und zappelnden Fischlein am Magenpförtner der Schwertschluckerin, die sich eine Kamera in die Speiseröhre schiebt; die Apnoe- und Entfesslungskünstlerin, die das Schloss an der Kette um ihren Hals nicht geknackt kriegt und verzweifelt an die Scheibe des Aquariums trommelt, bis die Regisseurin selbst hinterherspringt und Techniker auf die Bühne eilen; die barocke Fontäne, gespeist aus Harnleitern und Nasenkathetern, die die Wasserstrahlen zu Vivaldi springen lässt. Blut, Wasser, Haare, Haut, Worte, Schreie – großer Sport.
Alles, was nass ist, passt
Was als Talentshow-Parodie beginnt, mit einem betrunkenen Captain Hook als Moderator, zerfällt unter Beteiligung einer sage und schreibe fünfköpfigen Produktionsdramaturgie schnell zu einem Assoziationsprogramm, das sich um solche vermutlich männlich indoktrinierten und hierarchisch organisierten Kategorien wie Wertung und Wirkung wenig kümmert und sich mit Lust in Spiel und Athletik verschwendet. Inhaltliche Informationen – auch überbewertet – sind mehr als dem Abend selbst einem kleinen Handzettel mit einem Glossar zu entnehmen, das von der fischschwänzigen Melusine über die vergewaltigte Leda bis zu den singenden Sirenen alle möglichen Seewesen auflistet und auch die sich erst als Wasserleiche verwirklichende Titelgeberin Ophelia nennt. Letztlich fügt sich alles, was fließt, spritzt, dampft, regnet und tränt, alles, was irgendwie nass ist, in die allumfassende Untergangsmetaphorik des Abends. Er wird mit viel Szenenapplaus und am Ende mit stehendem Jubel gefeiert, was die einander um die Hälse fallenden Spielerinnen in ihrer Freude nicht groß zu kümmern scheint.



