Weiß gar nicht, ob er mich vorher groß angeguckt hat. Da hatte ich schon seine Lippen auf meinen und seine Zunge in meinem Mund. Es war kein schlechtes Gefühl, das sich in meinem Hirn und auch weiter unten breit machte. Dennoch hob ich aus einem starken Impuls heraus meine Hand, um sie zwischen unseren Köpfen mit ausgestrecktem Zeigefinger zu platzieren. Mit einem: „Äh, nein.“ Sein Blick zeigte nicht unbedingt Begeisterung. Was war passiert? Ich hatte ein Date.
Will schon gar nicht mehr rechnen, seit wann ich das tue. Daten. Sagen wir: Vier Jahre, und ich frage mich, ab wie vielen Jahren man genügend Frösche geküsst hat, damit daraus ein Prinz wird. Und das muss man wohl: küssen, sonst wird das nichts.
Das Problem dabei: Ich bin hoffnungslos romantisch. Nicht nur der Märchen von früher wegen. Man denke nur an Dornröschen, Schneewittchen und den Froschkönig selbstredend. Alle mussten küssen, um das wahre Ich und den richtigen Weg zu erkennen, den ins uferlose Glück nämlich.
Flaschendrehen bei der Geburtstagsparty
Liegt es am Alter, dass ich jetzt meine ersten Kusserfahrungen verbräme, die Tatsache, dass ich mit meinem ersten Freund anfangs ein paar Wochen lang Briefchen schrieb, warum ich ihn im Rollpalast nicht sofort knutschen wollte, weil da alle zusahen, um dann doch bei der Geburtstagparty beim Flaschendrehen den ersten Knutscher zu erhalten?
Je älter ich werde, desto mehr verlangt es mich wieder nach diesen leicht verkrumpelten Zettelchen, die irgendwo auf dem Tisch darauf warten, entdeckt zu werden: „War schön!“ „Wann sehen wir uns wieder?“ Oder eine mit zittriger Hand notierte Nummer – bitte zitternd vor Freude und nicht vor Krankheit. Hach.
Wenn ich im Kreis meiner Freundinnen rumfrage, ob sie nach langer Zeit ihren Partner noch genauso küssen wir anfangs, lautet es oft: natürlich nicht, es hat sich verändert. Sex sei nicht mehr so wichtig, aber jede Umarmung zähle doppelt und dreifach. Vor allem Nähe. Anwesenheit. Das sind Augenblicke, in denen sich mein Brustkorb zusammenzieht wie nach dem herzhaften Biss in eine überdimensionierte Zitrone. Weil ich das ja auch wollte.
Feierabend vom ergebnislosen Flirten
Ich hatte durch diverse Datingshows zappend auf dem Familiensofa gesessen und die Quatschenden mit gebührendem Abstand betrachtet, zumal mein Mann das nicht hatte gucken wollen, es immerhin lustig gefunden hatte, wenn ich davon erzählte. Immer wieder in meinen Eingeweiden: Zum Glück muss ich das nicht mehr, zum Glück.
Vielleicht würde ich am liebsten diese ganze Anfangsphase überspringen. Da einsteigen, wo man sich darüber Gedanken macht, eventuell doch mal einen Fuß gemeinsam ins eigene grüne Gras zu setzen. Wieder einen Feierabend haben vom ergebnislosen Flirten.
Gleichzeitig ist es verrückt gut, sich katalogmäßig durch Fotos zu wühlen, die einen allesamt anzustrahlen scheinen. Lass uns treffen, ich bin der mit dem Pferd. Forscher haben übrigens festgestellt, dass es sich bei Tinder und Co. nicht wirklich ums Treffen, also Punkten handelt. Als solches getarnt verfügt es vielmehr über alle Mittel eines Suchtspiels, einzig der Ausschüttung von Belohnungshormonen gewidmet. Mit dem Nachteil jedoch, dass der Frust, wenn es nicht geklappt hat, gegenläufig heftig agiert. Dazwischen läuft eine Maschine, die uns und mich immerzu dahin bringen will, weiterzuwischen, weil da eventuell noch ein besserer Kandidat warten könnte, nur viertausend Fotos entfernt. Um nicht daran zu denken, dass wir bei diesem Phänomen ähnlich handeln wie jemand, der jede Saison neue Klamotten kauft, um sich up to date zu fühlen.

Wieder ein Übernachtungsgast, der verpennt in der Küche steht
Sobald ich das wiederum meinen Freundinnen zum besten gebe, sagen sie: Also sie kennen zwei, die sich sofort entdeckt, gematched und im Grunde auch gleich geheiratet haben. Manchmal erinnern mich solche Momente an diejenigen mit anderen Müttern, die mir als frische Mutter auf meinen Schlafentzug hin zugeraunt haben, ihr Kind würde ja schon längst durchschlafen.
Meine Großmutter tröstete meinen Liebeskummer seinerzeit mit einem Spruch: Auch andere Mütter haben schöne Söhne. Nun gut. Schnell verdränge ich den Gedanken, ob ich denn eine Prinzessin bin, geschiedene Künstlerin, mit süßen 50 und zwei riesenhaften Söhnen, die schon gern neugierig dreinblicken, wenn wieder ein Übernachtungsgast verpennt mit Kaffee in der Küche steht. (Neulich mein Zweitgeborener auf eine Begegnung hin, wie lange ich den denn schon kennen würde. Äh, seit gestern. Und er mit einem Grinsen: „Respekt!“ Nur um mal zu erwähnen, dass ich das Glück zweier wirklich großartiger Söhne besitze.)
Der Mann von oben heißt Michael und stellte einige sehr sympathische Abbildungen ins Netz. Ansprechend, da er in Aktion zu betrachten war und nicht nur die Kamera belächelte. Ich habe noch nie Golf gespielt, und in Ägypten war ich auch noch nie, geschweige denn habe ich in einem Sportwagen gesessen, dessen Türen man nach oben aufklappen kann.
Michael kam nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel frisch zur Kneipe, wo wir verabredet waren. Wir brauchten keine Sekunde, um in ein angeregtes Gespräch einzusteigen. Über Reisen, worüber er früher als Journalist geschrieben hatte, während ich durch seine Erzählungen selbst ins Schwelgen kam.
Wo war meine Abenteuerlust abgeblieben?
Wie lange war es her, dass ich über einen größeren Radius hinaus gereist war? Brandenburg und Ostsee, mehr war nicht drin gewesen. Das dafür mit umso mehr Genuss. Im Austausch merkte ich durchaus, wie die Sehnsucht zentimeterweise mit den Getränken stieg. Waren es die nicht gesehenen Bilder von südamerikanischen Gebirgsketten, die Bodennebel in Madagaskar? Gerüche aus Indien, wo ich selbst als junge Erwachsene gewesen bin, aber wohl nicht so bald hindüsen würde, weil einfach keine Zeit mehr und unaufhörlicher Arbeitsdruck? Sind das wirklich Gründe, es nicht mehr zu unternehmen? Wo war meine Abenteuerlust geblieben, die nichts mit Daten zu tun hatte, dafür mit anderen Risiken und finanziellen Aufwänden?
Ist das ein weiteres Phänomen des Älterwerdens, Vorbehalte wie diese zu pflegen und sich zu sagen, es sei auch vernünftig? Kostet viel und ist schlecht für die Umwelt. Über dieses Dilemma wusste Michael indes viel zu sagen, während ich es prompt mit der anderen Abenteuerlust verglich, die auch oft mehr Nebenwirkungen zeigte als erwünscht und erwartet.
Natürlich konnte Michael meine Gedankengänge nicht verfolgen. Es gefiel ihm sichtlich, dass ich das Reisen liebte. Als ich aber in einem Nebensatz meinte, dass ich auch schreiben würde, bekam sein Interesse einen neuen Schwung. Ja, was denn? Geschichten, und ehrlich gesagt, auch was übers Daten. Da holte er gleich noch mal eine Runde Gin Tonics. Ich hatte ja beschlossen, immer ehrlich zu sein und jedem potienziellen Protagonisten vorab von der Möglichkeit zu erzählen, eventuell darüber schreiben zu wollen. Eventuell. Weil, genauso ehrlich: Ich habe privat durchaus ein ähnliches Interesse, jemanden kennenzulernen. Nicht immer alles für die Kunst, oder doch?

Flirten braucht Geheimnis
Michael mit den zwei Gläsern in der Hand: Also jetzt müsse er nochmal von vorn beginnen und mir ein paar gute, aufschreibenswürdige Anekdoten vom Reisen bieten. Aber was mit Daten würde ihm spontan nicht in den Sinn kommen. Wie viel Uhr sei es denn? Wir könnten eigentlich noch schnell ins Vabali fahren und daraus eine Story basteln. Ich guckte auf meine Zigarettenschachtel. Es war bestimmt weit nach zehn Uhr und ich musste morgen früh raus. Also weißt du, versuchte ich ein Lachen, soviel Ehrgeiz für eine gute Geschichte habe ich Sonntagabend nicht. Erzähl mir doch einfach mal was darüber, wie es ist, zwischen München und Berlin zu pendeln. Ach, antwortete er, lass uns da weiterspinnen, erzähl du mir mal lieber, was dir inzwischen alles widerfahren ist. Schick mir gleich den Link.
Beim Reisen würde man schlicht sagen, dass man in einer Sackgasse stecke. Man hatte den Impuls, einen neuen Weg zu erkunden. Aber da ging es eben nicht weiter. In meinem übergroßen Rucksack rumpelte die Idee von Romantik, die ich mir bestimmt selber verbaut hatte. Man kann nicht schwärmen, wenn man zu viel weiß und offenlegt. Flirten braucht Geheimnis, und das ist sicherlich keine Frage von Alter.
Irgendwann in unserem Gespräch saßen wir dann nebeneinander, er tippte an meine Schulter und küsste mich, wie oben gesagt. Im Anschluss erklärte ich noch, warum ich das jetzt nicht so prima fand. Weil mir die Spannung fehlte. Weil ich nicht wusste, ob das nun für die Geschichte war oder wegen mir. Wohl wissend, dass einfach alles nicht stimmte. Neben mir saß ein toller Mann, der meine Signale und mein Reden falsch verstanden hatte und sich selbstverständlich entschuldigte. Er sagte, er fühle sich jetzt schlecht, woraufhin ich mich auch schlecht fühlte. Ich stimmte nicht in dieser Situation. Man darf nicht vermischen, muss klar bleiben in dem, was man will und bereit ist zu geben. Oder? Wäre das nicht ein Ergebnis von 50 Jahren auf dem Lebensportal, wo man stets dazu angehalten wird, erwachsene Entscheidungen zu treffen, vor allem in der Liebe?
Liegt darin vielleicht der Hase im Pfeffer begraben, dass das Onlinedaten als Glücksspiel für mich zumindest nicht mehr funktionierte? Ich beschloss, mich gleich am nächsten Morgen dort abzumelden.





