Sex & Liebe

Dating: Ab wie vielen Männern ist man eine „Schlampe“?

Welche Möglichkeiten bieten sich einer alleinstehenden Frau um die 50? Unsere Autorin datet und hat keine Ahnung, wann dieser Lebenshunger vorbei ist.  

Roshanak Amini für Berliner Zeitung

Je älter ich werde, umso stärker tickt das Gefühl, mich in einer Art Blase zu befinden. Natürlich haben auch die letzten bald drei Jahre dazu geführt, dass das soziale Umfeld stark beschränkt um wenige Themen und Begegnungen kreiste. Es tat auch gut, die wenigen immer ähnlich vertrauten Menschen zu treffen und mit ihnen bei Gesprächen oft einen Konsens zu finden, weil: Nichts ist schlimmer, als abends allein auf dem Sofa mit ein paar nicht ausgehandelten Konflikten bei Netflix zu landen.

Ich bin Single und hatte vor Corona eigentlich ein prima Leben mit zwei recht großen Söhnen, ausfüllenden Berufen und den besten Freunden der Welt. Mit einer dieser Freundinnen bin ich einfach, wenn es im Seelengetriebe knirschte, bis zum Morgengrauen tanzen gegangen. Jetzt allerdings setzte dann doch dieser Eindruck einer allzu dichten Filzdecke ein, die sich langsam, aber sicher auf die Lebensblase legte. Wo seid ihr alle? Nur noch im Netz? Zwischen Homeoffice und Lieferdienst in den „sozialen Netzwerken“ verschollen? Keine Körperlichkeit weit und breit? Ich weiß, dass ich mit diesem Gedanken nie allein war, immerhin. Dennoch wollte ich diesem lustleeren Raum unbedingt wieder einen greifbaren Schwung geben. Okay, dann eben doch virtuell auf diverse Partnerschaftsanbahnungsplattformen. Leider glaube ich daran nicht, aber ohne den Versuch einer Belehrung durch gute Erfahrungen lässt sich auch kein Berg versetzen.

Ab wie vielen Männern ist man eine „Schlampe“? Ich weiß noch, dass zum Glück alle Insassen des Autos auflachten, als ich die Frage stellte. Tatsächlich war ich nach einem herrlich analogen Literaturfestival dem Impuls nachgegangen, einfach mal die Namen derjenigen aufzuschreiben, die ich nach meiner 20-jährigen Ehe näher kennengelernt habe, will heißen: mit denen ich bereit war, eine Nacht und gerne mehr zu verbringen. Woraufhin diese allerdings ihre gegenteilige Ansicht/Absicht spätestens nach dem zweiten Techtelmechtel absonderten. Meine Freundin meinte: Warum tust du dir das eigentlich an? Willst du dir nicht mehr Zeit lassen und abwarten, ob sich nach diversen mündlichen Treffen der darauf folgende Sex nicht gleich auch besser anfühlt, da tiefer und vielleicht nachhaltiger? Ich beeilte mich, nicht gleich loszurufen: Unbedingt! Aber wenn ich das Gespräch von vorneherein klasse anregend finde, will ich irgendwann bald meinen Kopf abgeben und mich hingeben.

Immer alles im Alkohol verschwimmen zu lassen, ist nicht die beste Lösung

Der Alltag ist schwer genug, es existieren kaum noch reale Möglichkeiten, sich auf gute Weise in Lebendigkeit zu verlieren. Tanzen war ja nicht, und immer alles im Alkohol verschwimmen zu lassen, ist auch nicht die beste Lösung. Das Wichtigste: Keine Ahnung, wann dieser mein Lebenshunger vorbei ist. Ich habe über zehn Jahre mit Abschieden, auch für immer, zugebracht, das reichte.

Aber welches Bild setzte sich da im Kopf meiner sorgenvollen Freundin fest? Ich sah auf ihrer Stirn das große Warnschild, nicht zuletzt, als sie meinte: Denk mal dran, welches Image du dir da nach außen hin verschaffst. Ja, welches denn? Für Männer scheint es doch immer viel ehrenhafter, sich mit verschiedenen Dates zu schmücken. Denk an den „Bachelor“, der hat bei weitem mehr Einschaltquoten als die weibliche Version, die „Bachelorette“. So einen Mist gucke sie grundsätzlich nicht, schimpfte sie.

Also für sie, fügte sie hinzu, sei das keinerlei Indiz für eine gelebte Emanzipation, wenn man viele Männer datet und dann auch noch darüber erzählt. Wumm, der Rest der Autofahrt verlief nicht mehr ganz so entspannt.

Wo findet man die Leichten, Lustigen, Wirbeligen, die mit Tiefgang und Kopf?

Betrachteten wir nun einmal die Sachlage ganz nüchtern. Welche Möglichkeiten bieten sich einer alleinstehenden Frau um die 50, deren männliche Gegenüber meist gebunden sind, und wenn nicht, dann oft aus gutem Grund? Wo, habe ich dann gefragt: Wo findet man die anderen, die Leichten, Lustigen, Wirbeligen, die mit Tiefgang und Kopf, als per erstem Fotoeindruck bei Tinder oder OkCupid etc.? Musste man sich dann nicht bald auf ein Bier verabreden, um zu checken, inwieweit das retuschierte Antlitz mit dem wahren Ich übereintraf? Wie klang die Stimme? Was strahlte sie aus? Probleme oder Lösungen? Wie oft wurde mir deutlich, dass mit zunehmendem Alter die Konflikte an Schwere gewannen, statt sie mit Lösungsmitteln zu vertreiben. Na, und dann wollte ich auch gern für mich abgleichen, ob nicht nur die Gedanken beweglich sind, sondern auch der ganze Mensch.

Und wie viele hast du bisher gedatet? Die Frage kam von der Rückbank mit einem neugierigen Grinsen. Das Schöne daran, bog ich ab, ist ja, dass ich Leute kennenlerne, denen ich sonst nie über den Weg laufen würde. Im Grunde müsste man auch eine Liste mit den Fehlentscheidungen führen. Gleichsam ergaben sie allesamt eine gute Geschichte, wie man sie sich kaum ausdenken konnte. Zum Beispiel? Der Typ, der im Gefängnis arbeitete und dessen Hals immer kürzer wurde beim Reden, weil er stark darum bemüht war, verbal seine Fähigkeiten als erotischer Masseur anzupreisen. Hast du sie in Anspruch genommen? Im Gegenteil! Ich habe seine Anekdoten aus dieser Institution aufgesaugt, während er nicht zu begreifen schien, dass das leider das Interessanteste war. Oder der Bowie-Fan, der wirklich ein hinreißender Gesprächspartner war. Bis ich feststellte, dass er als Schönheitschirurg wirkte, wobei mir im Anschluss beim Lachen meine Falten verkrampften. Oder der Hobbyornithologe, der mit Hingabe vom nepalesischen Kuckuck berichtete, nachdem er seinen Arm um mich hatte legen wollen. Gut, der war ein toller Kerl, noch dazu ein Ex-Punk, was ich früher mochte, aber jetzt eben nicht mehr.

Ja, und was willst du eigentlich momentan? Suchst du einen Partner oder eine Affäre?

Vielleicht, dachte ich in diesem Augenblick, mag ich mehr die fremden Geschichten als die Erzähler, die daran hängen.

Wir setzten uns auf niedrige Plastikstühle und versanken in tiefe Gespräche

Bis auf die Begegnungen eben, in denen die phantastische Erzählung auf einen besonderen Protagonisten trifft. Mike hatte nur ein einziges Selfie von sich gepostet, das aber alles aufzeigte, was mir gefiel. Vollkommene Verschmitztheit im Mundwinkel gepaart mit jugendlichem Leuchten. Basecap, T-Shirt, universale Lässigkeit. Als wir uns in der Bretterbar gegenüberstanden, dachte ich prompt, dass da nur noch das Skateboard unterm Arm fehlt. Stattdessen trug er einen Rucksack mit sich, worin er wie ein Kleinod eine Panflöte versteckte. Er sei Straßenmusiker, so die Erklärung. Wir setzten uns auf die niedrigen Plastikstühle und versanken sofort in ähnlich tiefe Gespräche. Ich schätze Smalltalk, aber wenn er sich auf diese sehr organische Art in etwas Ernsthaftes verwandelt – umso besser.

Mike platzte heraus, dass er schon lange nicht mehr in einer solchen Lokalität gesessen hätte, zumindest nicht mit der Absicht zu daten. Er sei lange Zeit draußen gewesen. Wie meinst du das? Na, er habe auf der Straße gelebt. Wie jetzt? Durch die Trennung von der Kindsmutter sei er in eine Krise geraten, just als Corona losbrach. Wahrscheinlich habe ich den Satz erst mal wirken lassen, so unvorstellbar war es für mich im schicken Prenzelberg, besonders hier im Feierabendlachen, dass jemand zwei Jahre lang von Freund zu Freund pendelt, bis ihn keiner mehr aufnimmt und dann lange Zeit im Park neben den Gleisen haust. Nachts die verstädterten Wildtiere und er mit seiner anfänglichen Angst, die aber weniger und weniger wurde. Wie wollen wir leben? So eine beliebte Schlagzeile aus den Zeitungen schoss mir in den Kopf. Aber auch: Wie können wir leben? Lieben? Und haben wir es wirklich selbst in der Hand, darüber zu entscheiden, wenn es wie in Mikes Fall darum geht, eine zerbrochene Liebe zu verarbeiten?

Keine leichten Fragen, vor allem nicht, wenn es um ein erstes Mal miteinander geht. Wäre ich nicht auf dieser Plattform getingelt, sehr wahrscheinlich wären wir aneinander vorbeigezogen. So aber bin ich mit zu ihm. Das Hochbett für die Tochter, seine Matratze unten an die Wand geklappt. An der Topfpflanze auf dem Fensterbrett wuchs eine vereinzelte Paprika. Den Kaffee am Morgen gab es vom Campingkocher. Daran hänge er noch, erzählte er. Nahm die Gitarre und spielte mir seine neuen Songs vor. Ein Szenario wie ausgedacht, es wurde mir mulmig dabei, weil ich merkte, dass ich mich in dieses Bild prompt verliebte.

Okay, was will ich, was suche ich hier, was und wie und mit wem?

Im Auto zurück vom Lesefestival sauste die Frage nach der Anzahl meiner Bekanntschaften wie eine Fliege von Fenster zu Fenster, bereit für den Abflug.