Vorwürfe gegen Till Lindemann

Ich bin seit 25 Jahren Rammstein-Fan: Wie soll ich jetzt noch mitsingen können?

Die Band hat das Leben unserer Autorin verändert. Durch ihre Lieder kam sie nach Berlin, lernte Deutsch. Jetzt fragt sie sich: Kann man die Musik von den Künstlern trennen?

Rammstein bei den MTV Europe Music Awards im Jahr 2001
Rammstein bei den MTV Europe Music Awards im Jahr 2001ZUMA Wire/imago

Es ist 1997 in Athen. Backstreet Boys, Mariah Carey, Chumbawamba laufen im Loop auf MTV, und meine Teenagerwut findet kein Ventil. Plötzlich: Ein Keyboard baut Spannung auf – Sekunden später krachen die Trommeln auf mein Trommelfell wie eine gigantische Welle gegen die Felsen. Ich renne in das Schlafzimmer meiner Mutter, wo der Fernseher steht. Ein illegales Paar küsst sich leidenschaftlich in einem Oldtimer. Und da ist er, das halbe Gesicht mit einer Maske bedeckt, die ein bisschen an ein Schwein erinnert.

Er zeigt mit dem Finger auf mich: „Du, du hast, du hast mich … du, du hast, du hast mich … du hast mich, du hast mich, du hast mich gefragt, du hast mich gefragt, du hast mich gefragt und ich hab NICHTS gesagt!“

26 Jahre später erinnere ich mich noch an diesen Moment. Auch wenn das wie ein Klischee klingt, es war ein bedeutender Moment in meinem Leben, ein lebensbestimmender Moment sogar. Meine erste Begegnung mit Rammstein findet gar nicht in Deutschland statt. Mit 15 Jahren spreche ich noch kein Deutsch. Es ist der Beginn einer besonderen Beziehung: zu Rammstein, zu Berlin und Deutschland, zur deutschen Sprache.

Wenn ich darüber nachdenke: Ich weiß nicht einmal, ob ich ohne Rammstein in Deutschland gelandet wäre, hier meinen Lebensunterhalt verdienen und meine Kinder großziehen würde. Ohne sie wäre ich während meiner Schulzeit nie auf die Idee gekommen, für eine Metal-Zeitschrift zu schreiben, was mich später motivierte, Journalismus zu studieren.

„Bück dich!“ oder Sex als Teil der Gleichung

Ich bin damals sofort in den Plattenladen gegangen und habe „Sehnsucht“ gekauft. „Bück dich!, befehl ich dir, wende dein Antlitz ab von mir, dein Gesicht ist mir egal, bück dich!“, singt Till Lindemann auf dem zweiten Album, das die Band in ganz Europa berühmt machte. Solche Texte über Dominanz, Provokation und Erregung haben maßgeblich zu ihrem Erfolg geführt. Einige werden sich erinnern, wie Lindemann bei einer Signierstunde in einer Moskauer Buchhandlung ein BDSM-typisch gekleidetes Model wie einen Hund an der Leine hinter sich herzerrte – das Publikum, darunter viele junge Frauen, jubelte. Selbst diejenigen, die bis vor ein paar Wochen noch nichts von der Peniskanonen-Bühnennummer wussten, wissen es jetzt sicherlich.

Bei Rammstein ging es oft um Sex und Unterwerfung, auch wenn die Bandmitglieder selbst die Protagonisten waren. In seinem Buch „Heute hat die Welt Geburtstag“ beschreibt der Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz die Show um den Song „Feuerräder“. „Wir kauften uns dafür in einem Sexshop ein Halsband und eine Hundeleine, und ich ritt auf Tills Rücken über die Bühne“, schreibt Flake und fügt hinzu, dass er sich auch eine Peitsche gekauft habe, mit der er Till geschlagen habe. Und weiter: „Wir stellten fest, dass wir uns zu solchen Titeln einige gute Aktionen für die Bühne ausdenken konnten.“

Kippt langsam die Stimmung unter Fans?

Dank solch kontroverser Bilder, extravaganter Shows und ihres vorbildlichen Marketings haben Rammstein es im Laufe der Jahre geschafft, eine dieser ganz wenigen Bands zu werden, die für ihre Fans mehr sind als nur Musik: Sie sind Teilnehmer lebensbestimmender Momente. Ihre Community ist sehr eng. Neulich wurden in einer der vielen Online-Gruppen zwei Mitglieder angefeuert, die sich zunächst auf einem Konzert kennengelernt hatten, dann mithilfe der Community wieder zueinander fanden und ein Jahr später verkündeten, sie seien ein glückliches Paar.

Meine eigene Beziehung zu Rammstein ist derzeit in einer Krise. Bis vor einem Monat haben wir jedes Mal, wenn die Spotify-Playlist im Auto das Lied „Ausländer“ spielte, die Boxen aufgedreht und gemeinsam mit den Kindern laut gesungen: „Ich bin Ausländer – come on, baby, c’est, c’est, c’est la vie.“ Wenn jetzt ein Rammstein- oder Lindemann-Song erklingt, überkommen mich seltsame Gefühle, die Stimmung ist getrübt. Im Moment ist mir nicht danach, mitzusingen. Ist das das Ende meiner Rammstein-Beziehung nach mehr als 25 Jahren?

Es scheint, als sei ich nicht allein. Auch in der Online-Community, wo in der aktuellen Lage Fans Trost suchen, scheint sich die Stimmung langsam zu ändern, insbesondere seit die Staatsanwaltschaft Berlin bestätigt hat, dass sie gegen den Sänger Till Lindemann ermittelt. Zwar halten die meisten Fans der Band immer noch die Treue. Aber einige haben begonnen, ihren Glauben infrage zu stellen und zu erkennen, dass ein dunkler Fleck zurückbleiben wird, selbst wenn alle Anschuldigungen auf magische Weise fallen gelassen werden sollten.

„Ich bin so verwirrt, warum ihr alle so öffentlich hinter ihnen stehen wollt?“, fragte neulich jemand unter einem selbstgemalten Bild der Band mit dem darübergekritzelten Satz „Ich stehe mit Rammstein.“ Ein anderer entgegnete: „Ich unterstütze derzeit Till und Rammstein, ich möchte an ihn und die anderen Mitglieder glauben“, fügte aber hinzu: „Wenn sich herausstellt, dass er schuldig ist, werde ich ihn nicht mehr unterstützen.“

„Ist mir wurst, was rundherum ist“

Einige zählen schon den Countdown bis zu den Berlin-Konzerten, für die ich zum Glück keine Karten habe – sonst wäre ich innerlich hin- und hergerissen, ob ich hingehe oder nicht. Kann man die große Feuerwerksparty genießen, wenn am Himmel solch dunkle Wolken aufgezogen sind? Neulich war ich äußerst überrascht, als ich in einem Video sah, wie ein weiblicher Fan kurz vor einem Rammstein-Konzert sagte, dass sie die Anschuldigungen nicht interessierten, sie sei nur wegen der Musik da: „Ist mir gerade wurst, was rundherum ist“, sagte sie wortwörtlich, „mir haben sie nichts getan.“

Keiner kann sagen, wie sich die Angelegenheit entwickeln wird. Zwischen einem Ermittlungsverfahren und einer Verhandlung vor einem Richter vergeht viel Zeit. Ob jemand schuldig gesprochen wird, ist noch mal eine ganz andere Frage. Aber in der Zwischenzeit kann ich nicht so tun, als ob nichts wäre. Ich kann die Augen nicht mehr schließen und einfach nur die Musik genießen. Und ich kann die Musik nicht locker von den Anschuldigungen trennen, solange diese nicht aufgelöst sind.