Ich muss mir merken, nicht ständig die Wahrheit zu sagen. Als ich mit dem Rad über die grüne Fußgängerampel fuhr, weil ich weit und breit allein war, da kamen zwei neongelbe Fahrradpolizisten in Sicherheitsmontur gerade um die Ecke und hatten mich erwischt. Ich gab ehrlich Auskunft darüber, wie ich mich seit 40 Jahren in dieser Stadt, täglich auf meinem Fahrrad verhalte. Unfallfrei, umsichtig und verhältnismäßig lahm. Aber das war der falsche Text. Ich musste Strafe zahlen, und nachdem die beiden weg waren, mit ihren Bikes, die mühelos dreimal schneller fuhren als meine klapprige Möhre, da dachte ich: Naja, ham ja recht und vielleicht werden von dem Geld wenigstens neue Radwege gebaut.
Aber als ich heute die Bikepolizisten sah, während ich vom Radweg abbog, zu meiner Haustür, die zehn Meter über den breiten leeren Gehweg, habe ich mich nicht lumpen lassen. Sie hatten mich schon gesehen, bevor ich vom Rad gesprungen war und winkten mich heran. Eine irritierte Frau, die kein Deutsch sprach, zahlte gerade 25 Euro und fragte auf Englisch, warum die Polizisten auf dem Gehweg fahren dürften, sie aber nicht.
Ausnahme, sagte der Uniformierte, während er auf seinem Kartenzahlgerät herumtippte. Als ich dran war belehrt zu werden, hörte ich mir demütig alles an, tat, als wäre ich mein Lebtag noch nie auf dem Gehweg gefahren, als sei es eine Riesenausnahme, als täte es mir unendlich leid, als sei ich versehentlich in Gedanken gewesen, was ganz sicher nie mehr vorkäme. Ich schwor, die Verkehrssicherheit sei mir extrem wichtig und ich wäre froh, dass meine Kinder mein Fehlverhalten nicht gesehen hätten, wo ich ihnen doch seit 20 Jahren einbläue nicht auf dem Gehweg zu fahren!
Ich wurde von dem Polizisten für meinen Super-Bluff belohnt
Ich hatte acht krasse Lügen aufgetischt und wurde von dem Polizisten für meinen Super-Bluff belohnt. Beim nächsten Mal würde ich aber Strafe zahlen müssen, sagte mir sein Zeigefinger, der aus einem gepolsterten Fahrradhandschuh wackelte. Ich war stolz auf meine Schwindelei und dachte im Wegfahren: Ha, mir doch Wurscht! Der kann mich mal am Tüffel tuten.
Und dann dachte ich an Rammstein und an die jungen Frauen, die den Fehler gemacht hatten, etwas, das ihnen in internationalem Ausmaß als cool präsentiert wurde, auch wirklich cool zu finden. Nachdem die Falle zugeschnappt war, wussten sie: Bloß nicht die Wahrheit sagen! Wer die Wahrheit sagt, die möglicherweise einen eigenen „Fehler“ beinhaltet, wird bestraft. So haben sie es in der Schule gelernt: Wer Fehler macht, fliegt raus. Und so ermöglicht Angst vor Fehlern große Fehler.
Im Zweifel ist die Lüge die sicherere Variante. Die Wahrheit bringt dich in Teufels Küche. Und wenn du, wie im Fall Rammstein, Teufels Küche schon von innen gesehen hast, dann hast du auch gelernt dich zu fürchten. Da wird nicht mit Liebe gekocht.
Sich Hilfe zu holen, kam als Lösung in den Kinderköpfen nie vor
Wenn etwas so lange so problemlos schiefgehen kann, dann muss es mehr als nur einen Grund haben. Geld ist vielleicht der schwerwiegendste, der den Starmacho so fatal entfesselt und ihm sein Umfeld gesichert hat.
Meinen Kindern habe ich sicherheitshalber nicht beigebracht, sich nur aus Prinzip an alle Verkehrsregeln zu halten. Immer zuerst selber denken, auch wenn wir Verkehrsregeln generell toll finden. Die Wahrheit sollen sie sogar dann furchtlos sagen können, wenn sie Fehler gemacht haben. Bei jeder banalen Kleinigkeit daran zu denken, die Wahrheit zu belohnen, wird gegen Missbrauch nicht helfen, erschwert ihn aber. Da bin ich sicher. Meine Mutter ist als Kind von ihren Eltern missbraucht worden, und vielleicht deshalb habe ich mir später diesen Job gesucht. Zehn Jahre lang trainierte ich Selbstverteidigung mit Kindern an Grundschulen als Prävention gegen Missbrauch. Wir saßen im Klassenraum auf dem Boden im Kreis, sprachen über Alltagssituationen, über das Brechen von Regeln und den Ungehorsam gegen Erwachsene. „Denkt ihr, dass die Kinder, denen mal was Schlimmes passiert ist, schon vorher ein unangenehmes Gefühl hatten?“
Klar! Da waren sich alle einig. „Müssen wir sofort mitkommen, wenn eine Person behauptet, wir hätten in der Schule einen wichtigen Brief vergessen, auch wenn es uns komisch vorkommt?“ Meist hatten die Kinder im Rollenspiel schlauere Lösungen als mein Unterrichtsplan. „Ich sag einfach, ‚hohl du mal den Brief, ich warte hier‘. Dann hau ich schnell ab.“ Nur, sich Hilfe zu holen, kam als Lösung in den Kinderköpfen nie vor. Erfolglos versuchte ich es ihnen immer wieder einzubläuen.
Der Missbrauch von körperlich Schwächeren bleibt immer möglich
Als wir ein paar Kampftechniken probierten und herausfanden, dass es nur möglich ist, sich einem „Schwitzkasten“ zu entwinden, wenn wir uns zum Körper hindrehen und nicht von ihm weg, rief ein Kind aufgeregt: „Jaaa! Wie mit dem Milchtopf! Da muss man ja auch hin!“
Milchtopf? „Na, wenn der überkocht!“ Hingehen, Herd ausschalten, obwohl es zischt und spritzt, wusste das Kind. Lieber Hilfe holen, sagt die pädagogische Fachkraft. Aber im Notfall entscheiden Kinder alleine. Die Möglichkeit, selber schuld zu sein, besteht schließlich immer. Und schuld sein will niemand, niemals!
Als ich später auch Frauen trainierte, stand am Ende jeder Kursstunde die frustrierende Tatsache, dass mit immensem Aufwand letztendlich nur sehr wenig verhindert werden kann. Die Opfer zu stärken, ist nicht die halbe Lösung, sondern ein minimaler Bruchteil. Die Gegenseite ist zu übermächtig und der Missbrauch von körperlich Schwächeren bleibt immer möglich. Irgendwann wollte ich Frauen nicht mehr dazu animieren, an sich zu arbeiten, ohne dass es von Männern auch verlangt wird. Ich wollte ihnen keine Tipps und Tricks mehr beibringen, um Männern, die zu weit gehen, mithilfe von Verwirrungstaktiken entkommen zu können.
Männer zu trainieren, wäre noch nicht die ganze Lösung
Aber auch Männer zu trainieren, wäre noch nicht die ganze Lösung. Es braucht eine dritte Instanz, die ein Auge darauf hat und vielleicht so gute Ideen umsetzt, wie die Row Zero nur mit Frauen im Alter der Bandmitglieder zu füllen.






