Kommentar

Warum wir den kolonialen Blick auf die iranische Revolte verlernen müssen

Die iranische Revolte mobilisiert weltweit Solidarität. Aber im Westen wird sie oft von rechts vereinnahmt. Warum wir stattdessen die Hoffnung feministische Praxis werden lassen sollten.

IMAGO/ZUMA Wire

Heute ist die Ermordung von Zhina-Mahsa Amini knapp über zwei Wochen her. Die Proteste, die in Kurdistan begannen, dauern in anderen Städten Irans weiter an. Jüngst wurde von Gewerkschaften, Lehrerinnen und Studierenden zum Generalstreik aufgerufen. Viele Menschen organisieren sich inner- wie außerhalb des Landes und gehen auf die Straßen.

Auch weil rechte und liberale Medien versuchen, den Kampf der iranischen Menschen auf „Kopftuch-Proteste“ zu reduzieren, ist es teils schwierig, das Neue dieser Bewegung zu erkennen. Sie hat das Potenzial, zur ersten, feministischen Revolution der modernen Geschichte zu avancieren. Dies anzuerkennen ist auch wichtig, um eine antifeministische Vereinnahmung zu verhindern. Und um den hegemonialen feministischen Diskurs zu verändern, der den Kampf der Frauen im Globalen Norden als einen universellen konstruiert.

Was im Iran geschieht, ist eben nicht nur eine feministische Revolution, weil Menschen ihre Kopftücher verbrennen. Es geht um mehr: In dieser Revolution wird die Hoffnung, dass die Befreiung aller durch die Befreiung unterdrückter Körper erfolgen kann, zu einer realen Möglichkeit für eine bessere Zukunft. „Az Kurdistan ta Teheran: Zan Zendegi Azadi“ bedeutet: gegen Patriarchat und Unterdrückung und für das Recht auf Selbstbestimmung – von Kurdistan bis Teheran.

Hoffnung ist eine feministische Waffe

Hoffnung ist der Kern jeder Widerstandsbewegung. Die Gewissheit, dass eine andere Zukunft möglich ist, treibt jede revolutionäre Bewegung. Der Repressionsapparat der Islamischen Republik zerstört seit 43 Jahren Tag für Tag jene Hoffnung – und die Vorstellung einer anderen Zukunft.

„Omid bazre Hoviate maast“ („Hoffnung ist der Keim unserer Identität“) – das war schon 2009 der Hauptslogan der grünen Bewegung. Sie begann mit dem „stillen Protest“ von Millionen von Menschen als Reaktion auf die Wahlen 2009. Die Islamische Republik verhaftete, ermordete und vertrieb Tausende Protestierende, Aktivist:innen und Journalist:innen und zerschlug die Bewegung brutal. Dies führte zu einer drastischen Verschärfung der Unterdrückungsapparate, einem Rückzug politischer Akteur:innen ins Private und der medialen Nichtbeachtung all dessen außerhalb iranischer Grenzen.

In den letzten Wellen der Proteste in den Jahren 2018/19 bis heute wurden und werden immer wieder Menschen auf der Straße ermordet. Während eines dreitägigen Internet-Shutdowns im Jahr 2019 wurden etwa 1500 Menschen ermordet. Die letzten vier Jahre stellen für die Bevölkerung im Iran die dunkelste Zeit dar. Der Kontext Irans ist zugleich auch von der Corona-Pandemie und staatlichem Versagens im Umgang mit ihr geprägt sowie von den Sanktionen, Inflation und Armut. Es wäre naiv, die Proteste nur auf Zhina Aminis Ermordung zu reduzieren. Ihr Tod ist das sichtbare Zeichen jahrzehntelanger politischer, rassistischer und sexueller Unterdrückung von Mensch und Umwelt durch das Regime. Der Mord war einer der zahllosen, staatlichen Morde der Islamischen Republik, deren Ideologie sich gegen Frauen, queere und transgeschlechtliche Menschen richtet.

Das Schweigen vieler westlicher Feminist:innen

Heute, fast drei Jahre nach den Protesten 2019, rufen die Menschen auf den Straßen „Jin, Jiyan, Azadi“ – Frau, Leben, Freiheit. Die kurdische Parole bezieht sich auf 40 Jahre Frauenkämpfe innerhalb der kurdischen Bewegung. Dass die Parole der Kurd:innen, die weltweit zu den am meisten unterdrückten und diskriminierten Völkern gehören, in Straßen von Zahedan bis Teheran gerufen wird, erfüllt, was Abdullah Öcalan einst gefordert hatte: eine Befreiung aller, die nur durch die Befreiung aller Frauen möglich ist. Eine Befreiung außerhalb patriarchaler und nationaler Grenzen.

Wenn man die historische Kriminalisierung kurdischer Befreiungsbewegungen sowohl im Iran als auch hier in Deutschland betrachtet, beginnt man zu verstehen, inwiefern sich die jetzige Bewegung sich von vorherigen unterscheidet: Sie ist feministisch, transnational und voller Hoffnung. Hamed Esamiyilioons, Sprecher von PS752Justice, dessen Frau und Kind in dem von der iranischen Flugabwehr abgeschossenen Ukraine-International-Airlines-Flug 725 (PS752) verstarben, drückte dies in einer Rede treffenderweise so aus: „Wo du mich mit der Axt trafst, wachsen Triebe, keine Wunden.“

Dennoch: das Spektrum der internationalen Reaktionen auf die jetzigen Proteste reicht von der Instrumentalisierung der feministischen Revolution für eine rechte und rechtsliberale Agenda bis hin zu einem enttäuschenden Schweigen derjenigen, die ansonsten eine „internationale Solidarität“ auf ihre politische Tagesordnung setzen.

In einem offenen Brief des Collective of Iranian Feminists wird jenes Schweigen auf „die lange Geschichte der kolonialen Unterdrückung in Verbindung mit dem jüngsten Anstieg xenophober, rassistischer und geschlechterfeindlicher Diskurse im Westen“ zurückgeführt. Letzteres habe dazu geführt, dass Themen wie der Hidschab auf „kulturelle Fragen reduziert“ und die Schicksale derer, die nicht in westlichen Kontexten leben, ignoriert würden. Dadurch seien fortschrittliche Stimmen im Globalen Norden daran gehindert worden, sich mit den Kämpfen der Menschen im Nahen Osten zu solidarisieren, „aus Angst, die geschlechterfeindlichen Ideologien im Westen zu unterstützen“.

Von deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen wie öffentlich-rechtlichen Medien ist bisweilen wenig zu erwarten: Bei der Berichterstattung über Iran werden überwiegend überkommene Narrative wiederholt – oder Reaktionen, die genau das Gegenteil jener Narrative beweisen möchten – etwa zur Zwangsverschleierung. Viele der deutschen Analysen über den Iran wirken regelrecht absurd: Faktoren wie Klasse, geschlechtliche Identität oder die geografische Lage spielen oftmals überhaupt keine Rolle.

Wo ist die Solidarität des Westens?

ِِDas Problem ist bekannt: Es bedarf einer Loslösung vom westlichen Blick sowie einer prinzipiellen Ausweitung des Wissens. Das gelingt nur, indem hegemoniale Bestrebungen aufgegeben und Wissensbestände anderer Teile der Welt auf Augenhöhe mitverhandelt werden. Ohne eine solche Verschiebung wird jede Erzählung irreführend. Sie bürdet den Menschen des globalen Südens – in dem Fall der MENA-Region – nur eine weitere Schicht von kolonialer Wissensproduktion geprägter Unwissenheit auf.

Mit ausschließlich westlichem Wissen können wir eben nicht erklären, dass durch den Mord an einer jungen Frau, der nur einer neben vielen in der langen Geschichte der Islamischen Republik darstellt, eine ganze Gesellschaft auf den Kopf gestellt worden ist. Erst, wenn überkommene Dichotomien wie säkular/religiös, Mann/Frau, Arbeiterklasse/Mittelschicht – ein Erbe kolonialen Wissens – aufgegeben werden, kann ein Verstehensprozess darüber einsetzen, was im Iran gerade passiert.

Der Kampf gegen Zwangsverschleierung im Iran hat natürlich dennoch Validität. Frauen werden dort nicht als Individuen respektiert, sondern zu Objekten gemacht. Sie sollen in ihrer Selbstbestimmung beschnitten werden, ihre Körper sollen der Durchsetzung gesellschaftlicher Vorstellungen dienen. Die Medien schaffen es auch deshalb nicht, die Komplexität der Situation richtig zu analysieren, weil sie das Thema Kopftuch nicht sachgerecht einordnen können.

Solidarität bedeutet Arbeit

Was wir derzeit im Iran beobachten, ließe sich letztlich als eine Schule des Widerstands bezeichnen: Trotz massiver Polizeigewalt, Festnahmen und Internetsperren ist es dem Staat nicht gelungen, die Proteste zu stoppen. Menschen öffnen ihre Türen für die Protestierenden. Parallel zeigen vergleichsweise neue Diskussionen über Islamophobie im Westen, wie eurozentrisch Diskussionen hierzulande bislang abliefen. Die Autorin Sara Ahmed sagt: „Solidarität setzt nicht voraus, dass unsere Kämpfe gleich sind, dass wir denselben Schmerz haben oder auf die gleiche Zukunft hoffen.“ Solidarität bedeutet Arbeit. Und die Erkenntnis, dass wir, wenn wir auch nicht die gleichen Gefühle oder den gleichen Körper haben, dennoch auf einer gemeinsamen Grundlage leben.

Es wäre höchste Zeit, koloniale Narrative zu überwinden, um die komplexen Lebensrealitäten der Menschen des globalen Südens anzuerkennen und neue Narrative zu schaffen, die Menschen außerhalb Europas nicht zu „den anderen“ macht. Niemand muss den Menschen im Iran eine Stimme geben. Sie haben selbst Stimmen, und sie rufen laut: „Jin, Jiyan, Azadi.“ Es ist Zeit, diese Stimmen zu hören. Momentan organisieren sich zahlreiche kurdische, iranische und feministische Aktivist:innen auf der ganzen Welt in Solidarität mit den iranischen Protesten. Es liegt in unserer Verantwortung, unsere Privilegien zu nutzen und diese Stimmen zu verstärken.

An alle meine Geschwister in Haft, auf den Strassen und vor den Computern im Exil.