Eine Frau und ein Mann begegnen sich und spüren sofort eine flirrende Anziehung. Die Liebe zwischen dem Theaterregisseur und der Autorin in „Der Hirte und die Weberin“ flammt heftig auf, obwohl die beiden sich zu disziplinieren versuchen. Nicht, weil sie aus sehr verschiedenen Verhältnissen, ja Welten stammen, sondern weil sie sich beide auf unsicherem Terrain befinden.
Er, Tschang Nju-Lang, hat wegen politischer Verfolgung China verlassen und ist über Paris nach Moskau gegangen, wo er an Theatern hospitiert. Sie, Hanna Bilkes, in Galizien geboren, versucht sich als deutschsprachige jüdische Dichterin in Moskau einen Alltag als Zeitschriftenredakteurin und Bibliothekarin aufzubauen. Ihn faszinieren ihre Gedichte und ihr unerschrockenes Auftreten. Sie ist begeistert von seiner Aura.
Die große Unbekannte
Beide sind von der Kommunistischen Partei abhängig, die ihnen mehr oder weniger direkt Weisungen erteilt. Hanna gerät immer wieder mit einem einflussreichen Genossen Montini aneinander, der seine antisemitischen Vorurteile kaum verbirgt. Nju-Langs Adresse darf sie nicht wissen. Der kommt immerhin zweimal in der Woche zu ihr, braucht den Rest seiner Zeit für die Arbeit. Doch nach einem Drittel des Romans werden die Liebenden jäh auseinandergerissen. Mit der intensiven Gestaltung der Suche und Sehnsucht, verknüpft mit Beobachtungen der politisch brisanten Zeit, zeigen sich die literarischen Fähigkeiten der Autorin des Buches. Klara Blum heißt sie.
Der Name Klara Blum (1904–1971) taucht in den einschlägigen Lexika nicht auf. Die Schriftstellerin Julia Franck nennt sie im Nachwort zu „Der Hirte und die Weberin“ die „große Unbekannte und Außenseiterin der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“. Das Buch ist das erste in der Anderen Bibliothek unter der neuen Herausgeberschaft von Franck und Rainer Wieland.
Ein Nachwort ist ein Nachwort. In diesem Falle verlockt die Neugier auf die Autorin, dies zuerst zu lesen. Klara Chaje Blum stammt aus Czernowitz, wuchs in Wien auf, lebte eine Weile in Palästina, bis sie ins Exil in die Sowjetunion ging, wo sie in die Mühlen der ideologischen Verdächtigungen geriet, die viele deutschsprachige Emigranten zerrieb. Ihre Situation nach dem Krieg setzt Julia Franck ins Verhältnis zu anderen: „Während Mascha Kaléko nach Palästina emigriert war, Feuchtwanger in Kalifornien und Nelly Sachs in Schweden bleibt, Gabriele Tergit und Sybille Bedford sich in England niederlassen, Stefan Zweig sich das Leben genommen und Joseph Roth mit nur 44 Jahren in Paris zu Tode getrunken hat, wollen die wenigsten jüdischen Schriftstellerinnen nach der Shoah zurück nach Deutschland. Im Gegensatz zu den Sozialisten Anna Seghers und Arnold Zweig spielt Klara Blum keinen Augenblick mit dem Gedanken – sondern bemüht sich als stolze Jüdin und selbsterklärte Ehefrau von Zhu in China um die chinesische Staatsbürgerschaft.“
Das ist der Punkt, an dem sich das Schicksal von Autorin und Figur überlagern: „selbsterklärte Ehefrau“. Klara Blum forschte nach dem Verbleib ihres chinesischen Geliebten, der ebenso verschwunden war wie die Romanfigur. Hanna Bilkes im Buch war vier Monate mit Nju-Lang zusammen. „Und kein Standesamt kann unsere Ehe heiligen, wie ich sie geheiligt habe.“ Mit der kurzen Liebesgeschichte und der anschließenden langen Suche nach dem Mann erzählt Klara Blum aus eigenem Erleben. „Ein Splitter Glück“, wie Hanna einmal ihre frohe Phase nennt, ist der zweite des in fünf Teile untergliederten Romans überschrieben. Der Theatermann ist von der Partei in den chinesischen Untergrundkampf gegen Japan geholt worden, der Dichterin wird jede Auskunft verweigert.
Die Legende von den Sternbildern
Klara Blum legt noch eine weitere Folie auf die Handlung. Das chinesische Volksmärchen vom Hirten und der Weberin hat sie nicht nur als Titel für den Roman gewählt, weil es das letzte Stück ist, das Nju-Lang in Schanghai vor seiner Abreise nach Paris und Moskau inszenierte. Er erzählt Hanna selbst die Geschichte in der ersten gemeinsamen Nacht. In zwei Sternbildern sehen die Chinesen Liebende: einen Mann mit Büffelkuh, eine Frau am Webstuhl. Zwischen ihren Dörfern fließt die Milchstraße. „Nur einmal im Jahr, am siebenten Abend des siebenten Monats, bilden die Himmelsvögel eine Brücke, eine schwirrende, farbige Brücke aus Vogelschwingen, und die beiden dürfen einander in die Arme stürzen.“

Die beiden sind also wie die zwei Königskinder in der westlichen Tradition, die nicht zueinander können. Klara Blum gibt ihrer Heldin eine große Begeisterung für andere Kulturen mit, sie interessiert sich für die Unterdrückung der chinesischen Bevölkerung genauso wie für die Auswirkungen des Kolonialismus in Afrika. Sie lernt Nju-Langs Sprache, um die Bilder zu verstehen, übernimmt sie in die eigene Dichtung. Deren ausgestellte Farbigkeit und die delirierenden Traummitschriften irritieren zum Teil. Auch stolpert man als heutige Leserin manchmal, wenn Blum das Deutsch oder Englisch von chinesischen Gesprächspartnern mit verdrehten Wörtern oder Stummelsätzen wiedergibt.
Diese Hanna Bilkes aber erhebt sich nicht über die anderen, im Gegenteil, sie umarmt das Andere. Sie schreibt in einem Brief, den sie nicht abschicken kann, weil sie keine Adresse kennt: „Denn siehst du, Nju-Lang, meine Liebe zu fremden Völkern hat die Liebe zu meinem eigenen jüdischen Volk nur verstärkt und vertieft.“ Da weiß sie schon, 1943, dass „Kinder aller Völker, Franzosen, Russen, Polen, Tschechen, Rumänen, Österreicher (und nicht zuletzt auch Deutsche!) in Hitlers Sklavenlagern geschunden“ werden, und sie weiß auch: „Sechs Millionen Juden wurden vergast.“



