Im Gefängnis wurde Liao Yiwu einmal von einem Mithäftling gefragt, wie er über Geschichte denke, und er erzählte ihm von einem großen Baum. Liao war 1990 verhaftet worden, weil er ein Gedicht über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom 4. Juni 1989 verfasst und verbreitet hatte. Die staatlich geahndeten Vergehen des Mithäftlings lagen schon Jahrzehnte zurück. Liao Yiwu, der seit 2011 in Berlin im Exil lebt, berichtet von diesem Gespräch in einem schmalen Buch, „Unsichtbare Kriegführung“, das auf einer „Zukunftsrede“ beruht, die er im Januar gehalten hat. In diesen Tagen kommt ein neues Buch von ihm auf Deutsch heraus: „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“.
Schon der Titel verweist auf Vergangenes. Der chinesische kommunistische Führer Mao Zedong lebte von 1893 bis 1976, die von ihm ausgerufene Kulturrevolution brachte Leid, Armut, Hunger und Tod über Millionen von Menschen. Der Titel verweist außerdem auf einen der großen Romane der Weltliteratur, auf „Die Liebe in Zeiten der Cholera“, mit dem Gabriel García Márquez sich vom magischen Realismus entfernte und näher entlang historischer Tatsachen erzählte.
Liao Yiwu schrieb über Corona den Roman „Wuhan“
Bekanntgeworden war Liao Yiwu in Deutschland 2009 durch das Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten“, das von Gesprächen mit einfachen, häufig entrechteten Menschen ausgeht. 2022 erschien sein Dokumentarroman „Wuhan“ über den Beginn der Corona-Pandemie. In Liao Yiwus neuem Buch gibt es konkrete Jahreszahlen, mehr als zwei Dutzend reale Personen mitsamt ihrer Sterbedaten, mit Verweisen auf für die chinesische Kultur bedeutende Opern und Romane, auf die politische Geografie des Landes. Der Fantasie des Autors entsprangen die handelnden Figuren, farbige Details düsterer Kampagnen und ein Erzähltempo, das zwischen Eile und Stagnation wechselt.
„Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“ schildert den Weg von Zhuang Zigui vom jugendlichen glühenden Anhänger des Großen Vorsitzenden Mao zu einem durch Erfahrung gebeutelten Mann. Er wird verleitet, die eigenen Eltern zu denunzieren, er wird ausgeschickt, auf dem Land Maos Lehren zu verbreiten. Oft gerät er an Menschen, die wie aus Liao Yiwus erstem Buch entstiegen wirken: vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft.
In seiner eingangs erwähnten „Zukunftsrede“ vergleicht der Autor Geschichte mit einem großen Baum, wo er die „politischen Gefangenen des 4. Juni“ in der üppig belaubten Krone verortet. „Auf uns sind die Scheinwerfer der Welt gerichtet“, sagt er. Aber die Geschichte habe auch viele unter der Erde steckende, unsichtbare Wurzeln. Und er sagte dem Mithäftling, wenn er über Geschichte schreiben würde, „dann nicht über die oberflächlich ins Auge fallenden Teile, ich würde nach den unterirdisch sich in alle Richtungen ausbreitenden Wurzeln graben und über die Tränen dieser Wurzeln schreiben, die niemals der Dunkelheit entkommen werden“.
Damit lieferte er eine Art Einführung für den neuen Roman. Mit Unterstützung eines kanadischen Sinologen erreichte Liao Yiwu 1989 die Veröffentlichung seines Gedichts „Massaker“, er drehte auch einen Film dazu. Das brachte ihm zwar eine vierjährige Haft einschließlich Folter ein, aber sein Name wurde außerhalb Chinas verbreitet. Jener Mitinsasse, der alte Yang, mit dem er über Geschichte sprach, hatte schon viele Jahre als Namensloser im Gefängnis verbracht. Er aber wurde zum Retter von Liao Yiwus Texten. Was dieser heimlich kritzelte, sicherte jener, weil er wusste, wann Durchsuchungen der Zelle anstanden, und vor allem: weil er die Papiere nach draußen schmuggeln konnte. Darunter waren die Anfänge von „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“.
Umerziehung auf dem Land
Vielleicht verbirgt dieser Yang sich auch hinter jenem Alten, der sich im Roman „im Dritten Gefängnis der Provinz Sichuan“ an Kämpfe des Jahres 1967 erinnert, als er auf dem Yangzi-Fluss ein Kriegsschiff kommandierte und neben ihm ein Schweinefrachter getroffen wurde. „Die Schweine, die noch am Leben waren, paddelten wie verrückt aufs Ufer zu, das waren einige hundert, Sau an Sau, ein grandioser Anblick.“
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die in Kapitel mit Zwischenüberschriften unterteilt sind, etwa „Rebellen und Royalisten“ oder „Umerziehung durch die armen und niederen Kleinbauern“. Diese Ordnung sowie die gründlichen Anmerkungen der Übersetzer zu historischen Personen und den Verweisen auf die klassische chinesische Literatur erleichtern das Zurechtfinden für die Leser.
Beeindruckt der Roman in den Massenszenen durch die bildhafte Schilderung, die Enge und Angst erlebbar macht, sind viele einzelne Episoden im Leben des Zhuang Zigui von groteskem Humor begleitet. So fühlt er sich plötzlich „alt, als habe er auf allzu eiliger Durchreise verfrüht eine Eintrittskarte in die Hölle gelöst“. Oder er singt immer weiter, denn „Jubellieder auf Mao gab es so viele, wie ein Ochse Haare hatte“. Und als wandernder Barbier bietet er den „Kahlschnitt“, den „Pfannenwenderschnitt“ und den „Klodeckelschnitt“ an.
Die Handlungszeit ist geprägt durch ein diktatorisches System mit religionsartiger Lehre. Die allgegenwärtige Losung „Wo Kampf ist, wird es Opfer geben“ lässt an Liao Yiwus Bild mit den Baumwurzeln der Geschichte denken, die noch die Gegenwart speisen. Die Menschen sind zur Gleichheit einschließlich „Wohnsitzüberwachung“ gezwungen, von Liedern und Appellen in Rhythmus gebracht. Individualität verkümmert. Da Liebe jedoch etwas Privates ist, misslingen die ersten Begegnungen des Helden mit Mädchen und Frauen entweder oder sie werden verstörend brutal. Später lernt Zhuang Zigui „diese Wesen, die so viel zäher waren als Männer“, zu verehren.
Es ist eine Frau, die schließlich seinen Weg ändert. Er saugt ihr „seltsame und nie gehörte Ausdrücke von den Lippen“ wie Dissident oder Ödipuskomplex. Durch sie hört er Namen wie „Freud, Nietzsche, Solschenizyn, Pasternak“ – eine gefährlich Liebende in Zeiten Mao Zedongs.
Der Roman hat eine chinesische Originalausgabe, erscheinen konnte sie nur in Taiwan.
Liao Yiwu: Unsichtbare Kriegführung. Wie ein Buch ein Imperium bezwingt. Übersetzt von Brigitte Höhenrieder. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 112 Seiten, 16 Euro
Liao Yiwu: Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs. Roman. Aus dem Chinesischen von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann. S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 448 Seiten, 26 Euro



