Geschichte

Wenn der Krieger eine Kriegerin ist und eine Äbtissin Orgasmen beschreibt

Janina Ramirez erzählt in ihrem Buch „Femina“ die Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen und zeigt, was ein Perspektivwechsel ausmacht. Eine Kritik.

Die britische Historikerin Janina Ramirez
Die britische Historikerin Janina RamirezJuliana Johnston

Die DNA-Analyse eines Zahns brachte es an den Tag: In einem der bekanntesten Wikingergräber Schwedens lag kein mächtiger, mit Speer, Axt, Schild und zwei Schlachtrössern bestatteter Krieger, sondern eine Kriegerin.

Von dieser bahnbrechenden Einsicht erzählt Janina Ramirez in „Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen“. Die Entdeckung aus dem Jahr 2017 führte „zu einer Neubewertung dessen (…), was wir über die Wikingerkultur zu wissen glaubten“. Gehörnte Helme und ungebildete Vollbart-Recken findet man eher in Wagneropern als im Schweden des 10. Jahrhunderts. Der historischen Wirklichkeit kommen wir näher, so Ramirez, wenn wir uns quirlige, kosmopolitische Handelssiedlungen voller unterschiedlicher Menschen vorstellen. Einschließlich bewaffneter und hochgeehrter Frauen.

Nicht alles, was im Buch der Historikerin aus Oxford steht, ist so spektakulär wie eine Wikingerkriegerin. Aber immer wird Faszinierendes sichtbar, weil Ramirez zähe Wahrnehmungsgewohnheiten – starke Männer, schwache Frauen – beiseite schiebt. Da wäre zum Beispiel Cynethryth, Königin der Mercier, des größten angelsächsischen Reiches im 8. Jahrhundert. Sie erinnert an die klügeren Herrscherinnen in „Game of Thrones“, machte ihr Land mit und ohne ihren Ehemann Offa zu einem der einflussreichsten der Region. Zu Lebzeiten „unglaublich einflussreich“ ist sie „heute fast vergessen“.

Eine sehr machohafte Angelegenheit

Oder Emma von der Normandie, die sich als „Ehefrau von Königen, Mutter von Königen, Landbesitzerin und Strippenzieherin“ mitten in den normannisch-angelsächsischen Machtkämpfen bewegte, die zur Schlacht von Hastings führten. Ist sie eine der wenigen Frauenfiguren auf dem weltberühmten Teppich von Bayeux? Unwahrscheinlich, meint Ramirez, die der von Nonnen geschaffenen Tapisserie ein Kapitel widmet. Sie nennt den Teppich eine „sehr machohafte Angelegenheit“, nicht zuletzt wegen der Penisse von vier Soldaten und der 88 Hengste, die die frommen Damen auf das Leinen stickten.

Ramirez stellt uns Frauen vor, die in einer männerdominierten Welt ihre eigene Agenda verfolgten. Königinnen, die lieber ihre Enkel umbringen als degradieren ließen; Herrscherinnen, die Heere kommandierten und mit den Mächtigen ihrer Zeit verhandelten; Nonnen, die in Klöstern Sicherheit, Bildung und Einfluss erlangten – unter ihnen regelrechte Stars, die Mystikerinnen.

Eine von ihnen war Hildegard von Bingen, deren Klosterschwestern mit wallenden Haaren und glitzernden Kränzen die Lieder ihrer Äbtissin sangen. Sie komponierte, ließ ihre Visionen aufschreiben, erfand eine eigene Sprache mit Vokabeln für Engel und Nasenschleim, predigte öffentlich, beeindruckte Bischöfe, ja den Papst, kritisierte den Klerus, war naturverbunden, kräuterkundig und am Wohlbefinden ihrer Mitmenschen interessiert. Ramirez zitiert Hildegards Rezept für einen Abtreibungssud und ihre sehr frühe Beschreibung eines weiblichen Orgasmus.

Es ist das erklärte Ziel der Mittelalterexpertin, die an verschiedenen BBC-Geschichtsdokumentationen mitwirkte, ihr Publikum zu begeistern. Sie beschwört Schauplätze, Gefühle und Konflikte der Vergangenheit, erzählt anschaulich und lebendig, manchmal auch ein bisschen distanzlos, etwa wenn sie über Hildegards Menopause spekuliert. Immer macht sie aber klar, wo gesicherte Fakten, wo Interpretation, wo Fantasie zum Einsatz kommen. Und sie warnt, dass viele Quellen mit Vorsicht zu genießen seien. Etwa wenn wir eine Ketzerin nur durch die Gerichtsakten ihrer Verfolger, eine Herrscherin nur aus Texten männlicher Chronisten kennen.

Die Kulturhistorikerin zieht aber nicht nur Texte heran. Sie beschreibt und interpretiert Schmuckstücke, Schnitzereien, Alltagsgegenstände und eröffnet dadurch anschauliche Zugänge. Die hochgebildete Hedwig von Anjou etwa, die als Jadwiga Andegaweńska 1394 zum „König“ von Polen gekrönt wurde, ist eine in Stereotypen erstarrte nationale Ikone. Mit Blick auf ihre persönliche Geschichte (soweit ergründbar) und ihr 600 Jahre altes Almosentäschchen verwandelt Ramirez sie in eine facettenreiche Frau.

Natürlich hat die Historikerin die feministische Mittelalterforschung nicht erfunden, mit vielen Hinweisen und Fußnoten lädt sie dazu ein, die Arbeit ihrer Kolleginnen zu entdecken. Und sie zeigt, wie aufregend Wissenschaft sein kann, wenn sie der Osteoarchäologin Anna Kjellström bei der Zahn-Analyse der Kriegerin über die Schulter guckt. Und wenn sie von der Mediävistin Margarethe Kühn und der Amerikanerin Caroline Walsh erzählt, liest sich das wie ein Krimi: Die beiden schmuggelten 1948 einen kostbaren, 15 Kilo schweren „Riesencodex“ Hildegard von Bingens aus der sowjetischen Besatzungszone ins Rheinland.

Eine Frage der Perspektive

Ramirez betont, dass das, was sie beschreibt, wie jede Geschichtsschreibung keine „empirische Wahrheit“ ist, ja keine sein kann. Im Unterschied zu Generationen von Historikern vor ihr macht sie deutlich, wie sehr die Gegenwart unsere Sicht auf die Vergangenheit prägt: Hält man starke Frauen für möglich, sucht man nach ihnen und entdeckt womöglich eine Kriegerin. Werden Scharfsinn, Ehrgeiz und Macht bei beiden Geschlechtern vermutet, werden die weiblichen Spielräume sorgfältiger analysiert.

Ist man aufmerksam für Unerwartetes, entdeckt man wie die Historikerin Ruth Mazo Karras in einer Pergamentrolle die Geschichte von Eleanor Rykener alias John Rykener, die 1395 in London festgenommen wurde. Heute würde man sie vielleicht als trans* bezeichnen. Und wer wie die Osteoarchäologin Rebecca Redfern nicht davon ausgeht, dass das europäische Mittelalter rein weiß war, schlägt neue Forschungswege ein: Mit der Analyse von Skeletten aus einem Massengrab gelangte diese Wissenschaftlerin zu dem Schluss, dass das London des 14. Jahrhunderts ethnisch vermutlich ähnlich divers war wie heute.

Das Mittelalter war nicht die düstere Vorstufe der Aufklärung und Moderne, sondern eine bewegte, vielfältige, komplexe Zeit, so das Fazit nach 470 Seiten Lektüre. Ja, auch damals gab es eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Allerdings wurde bislang höchstens ansatzweise erforscht, was das unter welchen Umständen bedeutete und wie Frauen darin agierten. Das Leben und die Gesellschaften waren viel komplexer als eine nur scheinbar neutrale Geschichtsschreibung lange glauben machte. Es gibt noch viel zu entdecken.

Janina Ramirez: Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen. Aus dem Englischen von Karin Schuler. Aufbau, Berlin 2023. 517 Seiten, 28 Euro