Es ist Mitternacht, eine Radiostimme wendet sich an ein Publikum. Der Sprecher befinde sich auf einer Insel am Nullmeridian, behauptet er. Er habe etwas zu erzählen in dieser Nacht. „Ich werde Sie bestimmt nicht retten und Ihnen auch kaum irgendwie helfen können. Aber ich werde Ihre Nacht mit Schlaflosigkeit füllen.“ Nicht nur mittels der Sprache übrigens, obwohl „Radio Nacht“ ein Buch ist, der neue Roman von Juri Andruchowytsch. Die kursiv gesetzten Abschnitte, die als Monolog dieses Sprechers angelegt sind, enden alle mit der Ansage eines Musikstücks.
Das erste stammt von Lubomyr Melnyk: „Ripples in a Water Scene“, „Gekräusel auf der Wasserbühne“. Nutzt man den QR-Code vorn im Buch, der zu einer Youtube-Playlist führt, erklingt eine sich langsam verzweigende Melodie mit einem Klavier im Vordergrund, zu dem sich andere Instrumente gesellen. Sie könnte gut zu einer Natur-Doku passen. Melnyk wurde 1948 als Sohn ukrainischer Eltern in einem Flüchtlingslager in München geboren, wuchs in Kanada auf. Das steht nicht im Buch, aber die Musik verleitet zur Abschweifung, so wie ja auch Andruchowytsch schon in seinen Vorgängerromanen „Zwölf Ringe“ und „Die Lieblinge der Justiz“ gern von einer Assoziation zur nächsten sprang.
Josip Rotsky hat einen sprechenden Namen
Sein neues Buch hat also einen Sprecher, auf den der Titel zurückgeht. Vierzehn Mal kommt er in diesen wenige Seiten umfassenden Abschnitten zu Wort, bis es kurz vor acht am Morgen ist. Er werde nie so Klavier spielen können wie Melnyk, sagt er bei seinem zweiten Einsatz, denn er sei Rockmusiker. Ach, sein Name sollte hier endlich fallen: Josip Rotsky. Der klingt nach dem Romancier Joseph Roth und dem Dichter Joseph Brodsky, auch Leo Trotzki ist nicht weit.
Juri Andruchowytsch, 1960 in Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine geboren und heute noch dort lebend, lässt nach dem ersten Radio-Abschnitt ein anderes Ich auftreten. Er habe den Auftrag, eine Biografie über Rotsky zu schreiben, sagt es. Die ersten Recherchen bieten einen angenehmen Einstieg in die Bedingungen des Romans. Vieles hier Angedeutete wird sich später wiederfinden: die unterschiedliche Färbung von Rotskys Augen, eine gescheiterte Revolution, ein Schweizer Gefängnis.
Der Biograf geht in die Stadt Nashorn. Was für ein Name! Andruchowytsch will seine Leserschaft vielleicht davor hüten, nach einem realen Vorbild zu suchen. Er nennt sie „Perle des lieblichen Mittelosteuropa“, voll von Flüchtlingen vieler Kontinente. Der Biograf mietet eine frühere Wohnung seines Helden, um ihm möglichst nahe zu sein – und fällt durch ein Zeitloch! Fortan haben wir es mit einem Roman zu tun, der auktorial aus dem Leben Rotskys erzählt. Mehrmals taucht der Ich-Erzähler kurz auf, bis er schließlich die Herrschaft über die Handlung wieder übernimmt.

Es ist also ein ziemlich trickreiches Unterfangen von einem Roman: politisch und fantastisch, verspielt und drastisch, ein bisschen konfus auch, aber durchaus fesselnd. Eine Lesenacht reicht nicht aus. Und man sollte sich hüten, aus Zeitökonomie auf die Musikstücke zu verzichten, denn Andruchowytsch, der wie sein Kollege Serhji Zhadan selbst Musiker ist, hat sie natürlich mit Bedacht gewählt, von David Bowie und den Rolling Stones bis zu Unthanks und Nils Frahm.
Anspielungen stecken auch in den Figuren und weiteren Namen, manche kommen aus der Weltliteratur wie eine Parallele zu „Faust“ (der Mann, der „Meph“ genannt werden möchte, sagt: „Aber Obacht, nicht Mephisto.“) oder zu Edgar Allan Poe. Andere entspringen der jüngeren Geschichte, wie wenn Rotsky bei der scheiternden Revolution als Klavierspieler in der Stadt unterwegs ist: Solche gab es auch in der ukrainischen Protestbewegung im Winter 2013/14, dem Euromaidan. Andruchowytsch unterscheidet zwischen der „Opposition, die offiziell als solche bezeichnet wurde“ und der echten. Er beobachtet in dem nicht benannten Land die „noch schwache und unreife Maid Demokratie“. Und Europa ist „nichtig klein und überbevölkert, ... durch und durch observiert und transparent“.
Im Subbotnik steckt ein Bot
Ein Schlägerkommando bricht Josip Rotsky die Finger, womit sich erklärt, weshalb er auf der Gegenwartsebene Radiomann ist und nur noch Platten auflegt. Ins Gefängnis gerät er nach einem politischen Attentat. Ein schwerkranker Mitinsasse bietet ihm einen teuflischen Deal an: Wenn er eine angekündigte Operation nicht überlebe, dürfe Rotsky über dessen Schweizer Nummernkonto verfügen. Der Großganove ist merkwürdigerweise nach dem sowjetischen freiwilligen Arbeitseinsatz benannt – Subbotnik. Oder brauchte der Autor diesen Namen nur, damit Rotsky bei der späten Wiederbegegnung überlegen kann, ob er etwa mit einem Bot kommuniziert, also einer Computerexistenz? Die drei Buchstaben stecken ja im Namen.
Frauen gibt es nur wenige in diesem Roman. Eine, Anita, die sich als Groupie in den Musiker Rotsky verliebte und ihn begleitete, als die Mafia ihm nach dem Leben trachtete, wird dem Biografen zur wichtigen Quelle. Die sympathischste Figur des Romans trägt schwarze Federn, ein sprechender Rabe, weise und zuverlässig – aber deshalb auch gefährdet.
Es ist der Übersetzerin Sabine Stöhr zu danken, dass sich Andruchowytschs Sprache so variantenreich und zuweilen überdreht liest, wenn Rotsky „zur Antwort irgendetwas Wortähnliches hervorkaut“, für „Barzeit“ eine eigene Geschwindigkeit gilt oder der Absolute Tinnitus „das Königreich des Knirschens“ ist. Überhaupt, der Tinnitus: Der Autor beschreibt diesen „Gehörhalluzinator aus dem Zelt für Taube“ so umfassend, dass man nach der Lektüre jeden davon Betroffenen unendlich bemitleiden muss.



